The Archivist's Choice

Monatliche Highlights der Mitarbeiter_innen­

 

In der Reihe The Archivist’s Choice erzählen Mitarbeiter_innen der Österreichischen Mediathek monatlich von ihren ganz persönlichen Archiv-Highlights, Aha-Momenten und Lieblingsaufnahmen, die ihnen bei ihrer Arbeit in einem der größten Medienarchive Österreichs begegnen.

Medienarchivar_innen evaluieren, sortieren, schlichten, digitalisieren, katalogisieren, beschreiben, speichern, präsentieren, skartieren – und haben dabei mit überraschenden, einzigarten, besonderen oder auch ganz alltäglichen Aufnahmen zu tun. The Archivist's Choice versammelt einige davon und präsentiert jeden Monat einen neuen und persönlichen Einblick in die Sammlungen der Österreichischen Mediathek.


<p>März 2024</p>

Wahlreden 1930 und 1949

„Achtung, Achtung, es spricht …“. Wahlpropaganda 1930 und 1949. Sozialdemokratische und ÖVP-Wahlreden auf Schellack-Schallplatten.

Aus der Zeit vor seiner Pensionierung erinnert sich Rainer Hubert an eine Reihe wichtiger Archivbestände der Mediathek – darunter die hier präsentierten Schallplatten

Im Archiv der Österreichischen Mediathek finden sich – im „Wahljahr 2024“ wohl besonders interessant – zwei herausragende Bestände an Schallplatten, die Wahlreden enthalten. – Der eine umfasst zehn sozialdemokratische Wahlreden vor der letzten Nationalratswahl der Ersten Republik im Jahre 1930, der andere acht Wahlreden von vier ÖVP-Politikern zur zweiten Nationalratswahl der Zweiten Republik im Jahre 1949.

Im Jahr 1930 – und auch noch 1949 – waren große Wahlversammlungen mit Reden von Politikern (sehr selten Politikerinnen) üblich. Die Breitenwirkung solcher Reden ließ sich durch die Herstellung von Schallplatten sehr vergrößern, weil diese bei sehr viel mehr Gelegenheiten einsetzbar waren. 1930 war dies ein moderner Gedanke, was sich daraus ersehen lässt, dass in Deutschland erst zwei Jahre später die „Erste Adolf-Hitler-Schallplatte“ aufgelegt wurde.

Es ist nicht überraschend, dass die wichtigsten Exponenten der beiden Parteien vor das Aufnahmemikrophon geladen wurden: 1930 unter anderen die sozialdemokratischen Politiker Otto Bauer, Karl Renner, Robert Danneberg und Adelheid Popp, 1949 die vier ÖVP-Politiker Felix Hurdes, Alphons Gorbach, Louis Weinberger und Karl Gruber. Von den insgesamt 18 Einzelreden werden hier sechs „Kostproben“ angeboten (die restlichen Aufnahmen sind über den Katalog abrufbar!). 

Der Tenor der Aussagen aus dem Jahr 1930 lag auf einer Analyse der Weltwirtschaftskrise und der instabilen inneren Situation in Österreich – mit Arbeitslosigkeit, Korruption und politischen Kampfverbänden wie der Heimwehr. Die bürgerliche Regierung wurde scharf kritisiert und die Bedrohung durch den Faschismus herausgestrichen. 

Die ernste Warnung vor einer möglichen bevorstehenden Bedrohung kennzeichnet auch die ÖVP-Wahlreden in der Nachkriegssituation des Jahre 1949, in Zeiten vierfacher Besetzung Österreichs und der Bildung des „Ostblocks“ in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Gefahr des Kommunismus wurde eindringlich beschworen. Statt Klassenparteien sollte die Volkspartei und damit die innere Einigkeit gewählt werden.

00:02:09
Wahlrede von Alfons Gorbach

für die National­rats­wahl vom 9. Oktober 1949

00:03:35
Wahlrede von Felix Hurdes

für die National­rats­wahl vom 9. Oktober 1949

00:03:31
Wahlrede von Karl Gruber

für die National­rats­wahl vom 9. Oktober 1949

1

Wahlrede, Renner 1930

Wahlrede, Renner 1930
00:04:22
Wahlrede von Karl Renner

für die National­rats­wahl vom 9. November 1930

00:03:23
Wahlrede von Otto Bauer

für die Nationalratswahl vom 9. November 1930

00:03:35
Wahlrede von Adelheid Popp

für die National­rats­wahl vom 9. November 1930

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Wahlrede, Gorbach 1949

Wahlrede, Gorbach 1949

Februar 2024

„Das Militär war die große Liebe meines Lebens“ – Christine Scherzer, eine Vorkämpferin für Emanzipation und Frauenrechte beim Österreichischen Bundesheer

Bei der Durchführung von lebensgeschichtlichen Interviews für die Oral History-Sammlung MenschenLeben stößt das Projektteam immer wieder auf Biografien und Erzählungen zu bisher kaum bekannten Aspekten österreichischer Zeitgeschichte. So auch beim Interview mit Christine Scherzer, die dem Projekt als „erste Frau beim Bundesheer“ vermittelt wurde – und zwar lange bevor am 1. April 1998 die ersten neun Frauen offiziell eingerückt sind.

Michael Maier ist Projektmitarbeiter und Interviewer bei der Sammlung MenschenLeben und hat als junger Mann familiär bedingt – sein Vater ist Vizeleutnant des Österreichischen Bundesheeres im Ruhestand – selbst einmal kurz mit einer militärischen Karriere geliebäugelt.

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte von Frau Scherzer hat den Autor dieses Textes insofern fasziniert, hat er doch justament zu diesem Zeitpunkt rund um die Öffnung des Heeres für Frauen seinen Präsenzdienst abgeleistet und noch als „Wehrmann“ (daraus wurde damals dann der geschlechtsneutrale Dienstgrad „Rekrut“) die Aufregung in Bezug auf die neuen Kameradinnen hautnah miterlebt…

Die militärische Laufbahn der gelernten Bürokauffrau Christine Scherzer, die auch über mehrere Ausbildungen im Bereich Gastronomie und Tourismus verfügt, beginnt 1994, als sie zufällig den Kommandanten der Bolfras-Kaserne Mistelbach trifft, und sich dieser, nach ihrem Bekunden zum Bundesheer zu wollen, scherzhafterweise einverstanden gibt. Mit Rückendeckung durch den damaligen Verteidigungsminister Werner Fasslabend gelingt es ihr tatsächlich, einen Einberufungsbefehl zu erwirken, und rückt so am 16. Juni als alleinerziehende dreifache Mutter im Alter von 40 Jahren zum Grundwehrdienst ein. Einerseits kommt Christine Scherzer damit ihrem Ziel, die männliche Bastion Bundesheer für Frauen zu öffnen, einen ersten Schritt näher, andererseits ist ihre Zeit als Soldatin auch von vielen Widrigkeiten und massiven sexistischen Anfeindungen geprägt. Nicht nur, dass das Heer nicht auf Frauen vorbereitet war, muss sie die ersten zwei Jahre ihrer Dienstzeit ohne Sold auskommen und ist daher gezwungen, für den Lebensunterhalt ihrer Familie abends als Kellnerin zu arbeiten. Mit viel Durchsetzungsvermögen und unter größten Anstrengungen schafft sie es, unter anderem auch mit dem von ihr gegründeten Verein „Frauen freiwillig zum österreichischen Bundesheer FzBH“, ihr Anliegen in der Öffentlichkeit publik zu machen. Frau Scherzer sieht sich damit auch in einer Tradition weiblicher „Vorkämpferinnen“ für Frauenrechte.

Das gesamte Interview mit Christine Scherzer ist bis 2038 gesperrt. Eine Nutzung für wissenschaftliche Forschung, universitäre Lehre, Schul- und Unterrichtsgebrauch sowie Erwachsenenbildung ist allerdings nach Rücksprache mit Frau Scherzer auch vor 2038 möglich.

 

00:08:56
Christine Scherzer über ihre Motivation als „Pionierfrau“ beim Bundesheer und ihren persönlichen Schlüsselmoment am Beginn der Grundausbildung
00:05:31
„Leben im Felde“ als einzige Frau unter hunderten Männern
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„Leben im Felde“: „Wehrfrau“ Scherzer in der Grundausbildung beim Abseilen von einer Eisenbahnbrücke (Mistelbach 1994)

„Leben im Felde“: „Wehrfrau“ Scherzer in der Grundausbildung beim Abseilen von einer Eisenbahnbrücke (Mistelbach 1994)

Jänner 2024

Eine Sinfonie über Berge und ein Berg Schellack für eine Sinfonie.

Richard Strauss, der große Opernkomponist, war auch Meister der Sinfonischen Dichtung. „Eine Alpensinfonie“ op. 64, vom ihm selbst 1941 dirigiert, ist ein Paradebeispiel des Genres, aber auch ein Beispiel für die Materialität von Schellackplatten.

Anton Hubauer ist „Allrounder“ der Österreichischen Mediathek. Von Webausstellungen, Sammlungsevaluierung, Digitalisierung und Katalogisierung bis zum Publikumsbetrieb reicht sein Aufgabenbereich.

Die 9 Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss, darunter „Tod und Verklärung“ op. 24 oder „Also sprach Zarathustra“ op. 30, zählen zu den Höhepunkten der Tondichtung, der Programmmusik. 

Zu diesem Genre zählt auch „Eine Alpensinfonie“ op. 64 aus dem Jahr 1915. Strauss begann die Arbeit daran im Jahr 1900, dem Todesjahr von Friedrich Nietzsche, der den Komponisten stets inspirierte, am stärksten wohl bei „Also sprach Zarathustra“. In der Alpensinfonie beschreibt Strauss eine Bergwanderung, die zugleich ein Menschenleben ist.

1941 spielte die Bayrische Staatskapelle unter seiner Leitung das Werk ein. Das Verhältnis von Strauss zum NS-Regime war ambivalent, er blieb in Deutschland, war Leiter der Reichsmusikkammer, aber Reichs-Propagandaminister Goebbels war über Strauss zutiefst erbost als der Komponist 1935, bei der Uraufführung der Oper „Die schweigsame Frau“, zu seinem Librettisten Stefan Zweig stand. 

Grund für meine Auswahl ist aber nicht nur die ideale Einspielsituation – der Komponist als Dirigent - sondern es sind auch die elf Seiten von sechs Schellacks, die dafür notwendig waren. Zwei Kilo Material für 44 Minuten, praktisch alle späteren Einspielungen bekannter Dirigenten sind länger. Das Anhören des Schellack-Albums war mit sechs Plattenwechsel und elf Seitenwechsel beinahe so sportlich, wie die beschriebene Wanderung. Als Vinyl-Platte genügt ein Seitenwechsel und in Zeiten der CD, ja der gestreamten Musik sind diese Unterbrechungen unvorstellbar geworden.

1

Richard Strauss / Hans Schliessmann, 1918 (gemeinfrei)

00:04:02
Eine Alpensinfonie - 1. Teil

Nacht – Sonnenaufgang

00:04:22
Eine Alpensinfonie - 2. Teil

Der Anstieg – Eintritt in den Wald

00:04:00
Eine Alpensinfonie - 3. Teil

Eintritt in den Wald – Wanderung neben dem Bache – Am Wasserfall – Erscheinung

00:04:29
Eine Alpensinfonie - 4. Teil

Auf blumigen Wiesen – auf der Alm – Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen

00:04:14
Eine Alpensinfonie - 5. Teil

Auf dem Gletscher – Gefahrvolle Augenblicke – Auf dem Gipfel

00:04:05
Eine Alpensinfonie - 6. Teil

Auf dem Gipfel – Vision

00:04:20
Eine Alpensinfonie - 7. Teil

Vision – Nebel steigen auf – Elegie

00:04:09
Eine Alpensinfonie - 8. Teil

Elegie – Stille vor dem Sturm – Gewitter und Sturm – Abstieg

00:04:02
Eine Alpensinfonie - 9. Teil

Gewitter und Sturm – Abstieg – Sonnenuntergang

00:04:12
Eine Alpensinfonie - 10. Teil

Ausklang

00:03:16
Eine Alpensinfonie - 11. Teil

Ausklang (Schluss)


Dezember 2023

„Walk, Jenny, Walk …“ – Günther Schifters Schellacks

„Günther Schifter hat die Platten ins Funkhaus getragen und wird das nächste Woche auch wieder tun, die alten schweren Platten herschleppen, Sie wissen schon welche, diese Schellacks und Schellacks und Schellacks …“

Gabriele Fröschl leitet die Österreichische Mediathek und hat noch Günther Schifters Lachen im Ohr - und seine "Nachrichten von damals", die mit ihrem bunten Mix an Information neugierig gemacht haben.

Die Sendungen von Günther Schifter gehören für viele zu prägenden Radioerinnerungen. Das liegt nicht nur an seiner charakteristischen und unverwechselbaren Stimme, sondern vor allem an der hörbaren Leidenschaft für Jazz und Swing, mit der er seine Zuhörer_innen akustisch in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hineinziehen konnte.

Dieses Interesse setzt bei dem am 23.12.1923 geborenen Günther Schifter in der Kindheit ein und er beginnt schon in sehr jungen Jahren mit dem Aufbau seiner Schellacksammlung, die sich heute in der Österreichischen Mediathek befindet.  Diese Sammlung ist auch die Grundlage seiner ersten Radiosendungen, als er am 1. Jänner 1949 beim Sender Rot-Weiß-Rot zu arbeiten beginnt. Günther Schifter moderiert "Der alte Plattenmann", "Klingende Kleinigkeiten", "Sandmann Serenade" und "Swing und Sweet".

1967 wird in Österreich mit der Einführung des Senders Ö3 eine modernere Programmschiene geschaffen und Günther Schifter gestaltet für den Sender die Sendung "Music Hall" (später „Günther Schifters Schellacks“) und greift dafür wieder auf seine Schellacksammlung zurück.  "Walk, Jenny, Walk" ist die Signation dieser wöchentlichen Sendung, in der nicht nur Musik gespielt wird, sondern in der auch "Nachrichten von damals" präsentiert werden, was von politischen Ereignissen über Kinoprogramme und Sportnachrichten bis hin zu Lebensmittelpreisen der Vorkriegs- oder Kriegszeit reicht. Diese Sendungen bieten nicht nur musikalische Raritäten für Jazz- und Swingbegeisterte sowie Schellacksammler_innen, sondern sind ganz nebenbei auch eine kurzweilige und unterhaltsam gestaltete Geschichtsstunde.

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Günther Schifter

00:54:38
Günther Schifters Schellacks, Folge 1276

1995


November 2023

„Was denken Sie?“ – Verkehrter Verkehr – Noch geduldetes Verkehrshindernis.

Die kurze ORF-Radiosendung „Was denken Sie?“, griff in etwa eineinhalb Minuten meist Themen des Alltags und Zusammenlebens auf, z.B. die zu hohe Lautstärke bei Fernsehgeräten. Gesprochen wurde diese Sendung von dem bekannten ORF-Moderator Peter Fichna (1931-2021).

Der Archivar Robert Pfundner übernimmt vielfältige AV-Sammlungen und taucht bei der Evaluierung derselben – wenn auch oft nur an der Oberfläche – in unterschiedlichste Themen ab. Und ja: Er fährt ausschließlich mit dem Fahrrad oder der U-Bahn in die Arbeit.

Gedanken zum Radfahren in der Stadt.

Bis heute ist die städtische Verkehrsplanung in Dänemark und den Niederlanden ein Vorbild, aber bereits vor etwa 45 Jahren wollte man im Radio auch die Österreicher*innen zum Umdenken und Umsteigen bewegen, indem man aufzeigt, dass in anderen Städten/Ländern eine fortschrittlichere Verkehrsplanung gedacht wird. Die Eröffnung einer Teilstrecke der U-Bahnlinie U1 und die dadurch schnellere Möglichkeit der Fortbewegung in der Stadt war ausschlaggebend, ein Umdenken der Verkehrspolitik parallel zum weiteren Ausbau des Wiener U-Bahnnetzes anzuregen. Es ist bemerkenswert, dass damals auch schon etwas Ungeduld mitschwingt.


Die Radiosendung stammt höchstwahrscheinlich aus dem Jahr 1978. In diesem Jahr wurde am 25. Februar die erste Teilstrecke der U1 in Wien von Reumannplatz bis Karlsplatz eröffnet. Neun Monate später, ab 18. November, fuhr die U1 noch um eine Station weiter, bis zum Stephansplatz.


Von privaten Sammlern auf Tonband aufgenommene Radiosendungen werden häufig der Österreichischen Mediathek übergeben. Sie stellen eine wichtige historische Quelle zur Radiogeschichte dar und sind eine konservierte, reproduzierbare Erinnerung an vergangene Jahrzehnte.


In diesem Fall stammt der Ausschnitt aus einem Tonband mit Radiosendungsschnipsel aus einer Sammlung von mehreren Tonbändern. Diese wurden ursprünglich beim Eumig-Museum in Niederösterreich deponiert und von diesem an die Österreichische Mediathek weitergegeben.

00:02:05
Gedanken im Radio

Über den Verkehr in der Großstadt, insbesondere in Wien.


 

Oktober 2023

Helmut Qualtinger liest Karl Kraus - „Die letzten Tage der Menschheit“

Das berühmteste Werk von Karl Kraus, gelesen in Ausschnitten in der einzigartigen Interpretation von Helmut Qualtinger bestätigt, was Aristoteles in der Metaphysik sagt: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“.

Anton Hubauer ist „Allrounder“ der Österreichischen Mediathek. Von Webausstellungen, Sammlungsevaluierung, Digitalisierung und Katalogisierung bis zum Publikumsbetrieb reicht sein Aufgabenbereich.

00:03:02
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – I. Akt, 1. Szene. Wien. Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke. Ein Fiaker hält vor einem Haus [Ausschnitt]
00:04:45
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – III. Akt, 11. Szene - Vereinssitzung der Cherusker in Krems [Ausschnitt]
00:03:17
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – III. Akt, 32. Szene - Eine stille Poetenklause im steirischen Wald [Ausschnitt]

Helmut Qualtinger wäre am 8. Oktober 95 Jahre alt geworden. Grund genug für mich Aufnahmen dieses österreichischsten Genies von Kabarett, Bühne und Film, kurz der darstellenden Kunst, aber auch des geschriebenen Wortes, auszuwählen.
Hier kommt ein zweiter Gigant der Sprache ins Spiel, kein anderer als der wohl größte deutschsprachige Satiriker und strengste Kritiker eines nachlässigen Umgangs mit der deutschen Sprache, als ein Zeichen für einen nachlässigen Umgang mit der Welt, Karl Kraus.
Aber nicht irgendein Stück von Karl Kraus, sondern „Die letzten Tage der Menschheit“. Das satirisch-apokalyptische Drama über den Ersten Weltkrieg entstand in den Jahren von 1915 bis 1922. Kraus schrieb im Vorwort, das Stück „sei einem Marstheater zugedacht“, weil ein normales Publikum ihm nicht standhalten könne.
Helmut Qualtinger hat über einen Zeitraum von über 30 Jahren immer wieder daraus gelesen. Wie es bei einem Werk der Weltliteratur selten der Fall ist, wurde ein Interpret zum „Alleininterpreten“.
Nicht, dass es andere nicht probiert hätten. Die unterschiedlichen Versuche, diesem Werk gerecht zu werden, reichen von Aufführungen in Auszügen bis hin zu mehreren Abenden für das gesamte Stück.

00:04:25
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – III. Akt, 6. Szene - In der Viktualienhandlung des Vinzenz Chramosta [Ausschnitt]

Aber egal wie aufwendig, lange und personalintensiv die Inszenierungen auch waren, nie entstand die „Versuchsstation für den Weltuntergang“, wie Karl Kraus Österreich-Ungarn mehrfach bezeichnete, so präzise, präsent, fühlbar, ja greifbar, wie durch die Stimme und Mimik von Helmut Qualtinger. Legion die Figuren des Stückes, denen er am treffendsten Leben einhauchte.

Bei den ausgewählten Szenen muss man auf das Minenspiel des Vortragenden verzichten, es handelt sich um die Audio-Einspielung aus den 60er Jahren für Preisser-Records. Aber die Stimme allein genügt, um Witz und Aberwitz, Unsinn, Irrsinn und Wahnsinn, die großen und kleinen Verbrechen und Verbrecher des Ersten Weltkrieges, des Krieges überhaupt, zum Leben zu erwecken.

00:00:50
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – V. Akt, 40. Szene - Eine Seitengasse [Ausschnitt]
00:02:11
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – IV. Akt, 38. Szene - Winter in den Karpaten [Ausschnitt]
00:02:19
Helmut Qualtinger liest Karl Kraus – Die letzten Tage der Menschheit – V. Akt, 5. Szene - Bei Udine [Ausschnitt]

 

September 2023

Vom Rohen zum Gekochten- Ein Feature und sein Making-of

Die Österreichische Mediathek sammelt nicht nur aktiv Radioaufnahmen der letzten Jahrzehnte, sondern immer wieder auch das für solche Sendungen produzierte Rohmaterial. Eine kulinarische Spezialität kann hierfür als Beispiel dienen.

Der Audioarchivar Stefan Kaltseis sorgt gemeinsam mit seinem Team dafür, dass Unveröffentlichtes erhalten und Rohfassungen zugänglich bleiben. Und ja: Er isst auch gerne Wurstsemmeln.

Eine Suchabfrage im internen Katalog der Österreichischen Mediathek zu den beiden Begriffen „Wurstsemmel“ und „Doblhofer“ liefert 31 Ergebnisse. Die Wurstsemmel ist vertraut, doch Doblhofer?

Der Journalist und Psychotherapeut Hannes Doblhofer führte zahlreiche Interviews zu den unterschiedlichsten Themenbereichen: beispielsweise über die Haut, das Schlagzeug, den Balkon, über Hunde oder die Pause in der Musik.

Hannes Doblhofer ist im Jahr 2011 verstorben und hinterließ mehr als 1300 Audiokassetten und etwa ebenso viele Tonbänder, die als Nachlass an die Österreichische Mediathek kamen, hier archiviert und digitalisiert wurden und vor Ort angehört werden können. Die aufgezeichneten Gespräche mit unterschiedlichsten Personen waren geprägt von ungewöhnlichen Fragestellungen, immer angetrieben durch eine spürbare Neugier, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dieses Rohmaterial bildete die Grundlage für eine Reihe von Radiofeatures.

Im Mai 1997 erschien in der Ö1-Reihe „Hörbilder“ eine Sendung mit dem Titel „die Wurstsemmel“. Wie diese Radiosendung entstand, lässt sich anhand der 31 erwähnten Aufnahmen nachzeichnen. Nach den eigentlichen Gesprächen zu völlig anderen Themen stellte Doblhofer abschließend seinen Gesprächspartner:innen immer die überraschende Frage, was sie denn von der Wurstsemmel hielten. Von herzhaftem Zuspruch zu dezidierter Abneigung reichten die Antworten. Die Frage des Journalisten ist im fertigen Feature ausgeblendet. Allein die Antworten zeichnen ein vielschichtiges Bild, das den Hörer:innen das Thema greifbar und in diesem Fall, brillant und humorvoll in Szene gesetzt, durchaus genießbar macht. Gerade bei der Wurstsemmel geht dieses Bild weit über das eigentliche Sujet hinaus. Erzählt wird neben persönlichen biographischen Einblicken auch eine Ernährungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Österreichs des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Das Feature über die Wurstsemmel ist weniger Gaumengenuss als vielmehr Ohrenschmaus. Besonders jetzt, wo das Wetter wieder kühler wird und die leiblichen Gelüste nach etwas Deftigerem verlangen, keine schlechte Mahlzeit! Mit oder ohne Gurkerl.

00:53:25
Hörbilder – Eine Sendung der Feature-Redaktion – Die Wurstsemmel

Auch ein zu Unterrichtszwecken gestaltetes Themenpaket zur Ernährungsgeschichte, das sich ausführlich dem Thema der Wurstsemmel widmet, kann auf der Website der Österreichischen Mediathek nachgelesen werden.


 

August 2023

Das "Gänsehäufel": Wiedereröffnung im Juni 1950

Ein vermutlich sendefähig gewesener Teil und ein ungeschnittener Teil mit "Hoppalas" einer Radioreportage des Radiosenders "Rot-Weiß-Rot" vom 21. Juni 1950 über die Wiedereröffnung des in den letzten Kriegswochen durch Bombentreffer zerstörten Freibades "Gänsehäufel" an der Alten Donau in Wien.

Peter Ploteny vertieft sich unter anderem in die rechtlichen Möglichkeiten der Verwendung von audiovisuellen Medien, hört und sieht gerne historische Tondokumente und Videodokumente.

 

Radioreportage über die Wiedereröffnung des "Gänsehäufel"

Vermutlich sendefähig gewesener Teil der Tonbandaufnahme im Gänsehäufel.

Radioreportage über die Wiedereröffnung des "Gänsehäufel"

Gesamtes erhaltenes Dokument. Abspielmarker steht auf Position des ungeschnittenen Teils der Aufnahme mit "Hoppalas".

Bei, wie in der Reportage berichtet, strömendem Regen wurde am 21. Juni 1950 nach nur zwei Jahren Bauzeit, nach vollständiger Zerstörung durch Bombentreffer in den letzten Kriegswochen, das Freibad an der Alten Donau in Wien wiedereröffnet. Es wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vom als „Naturheiler“ bekannt gewesenen Florian Berndl entdeckt und als Badestrand genutzt. 1907 wurde das Strandbad von der Stadt Wien übernommen, erweitert und modernisiert. Auf 330.000 Quadratmeter Fläche können heute bis zu 30.000 Menschen täglich dieses bekannte, öffentliche Freibad besuchen.

Die unter Kontrolle der US-amerikanischen Besatzungsbehörde stehende Sendergruppe Rot-Weiß-Rot (RWR) strahlte nach Inbetriebnahme des Radiosenders in Salzburg im Juni 1945 auch in Wien ab November 1945 ihr Programm aus. Ende Juli 1955 stellte RWR-Wien seinen Sendebetrieb ein. Schließlich wurden alle zwischen 1945 und 1955 auch von den weiteren Alliierten betriebenen Radiosender vom ORF übernommen.

Anhand dieser hier vorgestellten Tonbandaufnahme von 1950 ist hör- und erkennbar, dass Radio damals schon seit über zwei Jahrzehnten kein reines Live-Medium mehr war.

In den 1990er Jahren konnte die Österreichische Mediathek über 200, erhalten gebliebene, originale Tonbänder von Radio Rot-Weiß-Rot zur Archivierung übernehmen, von denen viele auch online anhörbar sind.

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Juli 2023

Enttäuschte Erwartungen – Ein Weltstar zu Gast in Wien

Luisa Tetrazzini war eine der weltweit berühmtesten Opernsängerinnen der vorletzten Jarhrhundertwende. Sie sang mit Enrico Caruso in New York und trat zu Weihnachten 2010 in San Francisco auf der Straße vor über 100.000 Zuhörer_innen auf. Ihr lang erwarteter erster Auftritt in Wien wurde von der Kritik eher zwiespältig bewertet, ihre Schellackeinspielungen können bis heute nachgehört werden und nach ihr wurde auch ein Nudelgericht benannt ...  

Johannes Kapeller hört gern historische Schallplatten und interessiert sich für die dahinter verborgenen Geschichten und Anekdoten, die rund um diese Aufnahmen entdeckt werden können.

Die Schellackeinspielung von "Io son Titania" aus der Oper Mignon aus dem Jahr 1911 gilt als eine der besten Aufnahmen Luisa Tetrazzinis.
Sie sang dieses Stück auch live bei ihrem einzigen Auftritt in Wien im Jahr 1913 im Konzerthaus.

00:04:35
Luisa Tetrazzini: "Io son Titania" (1911)

Luisa Tetrazzini

Im Magazin der Österreichischen Mediathek befinden sich über 40 Aufnahmen der italienischen Opernsängerin Luisa Tetrazzini.
Die 1871 in Florenz geborene Sängerin sang einige Jahre sehr erfolgreich in den Vereinigten Staaten, war eine Bühnenpartnerin von Enrico Caruso und wurde weltberühmt durch einen Auftritt zu Weihnachten 1910. Aus Protest gegen ein zeitweiliges Auftrittsverbot in New York gab sie auf offener Straße ein freies Konzert in der Innenstadt von San Francisco vor 100.000 bis 200.000 Zuhörer_innen. Von diesem Ereignis berichtete sogar die Grazer Tagespost.

Auftritt in Wien

Am 19. November 1913 sang die Tetrazzini um 20 Uhr im Großen Saal des Konzerthauses in Wien. Dieser erste Wien-Auftritt der weltberühmten Operndiva war lange erwartet worden, in den Zeitungen der Monarchie wurde bereits Monate davor auf das Konzert hingewiesen. Das dominierende Thema der Berichterstattung war die Rekordgage der Tetrazzini: Für den einmaligen Auftritt erhielt die Sängerin anscheinend eine Gage von 15.000 Kronen, was 1913 ca. das 10-fache eines durchschnittlichen Jahreseinkommens darstellte.

Die Presse- und Kritikerreaktionen zu diesem besonderen Konzertereignis waren danach eher durchwachsen bis enttäuscht, hervorgehoben wurde ihre Technik, vermisst wurde ihre Seele. Das Salzburger Volksblatt verstieg sich sogar zu der Kritik, Tetrazzini wäre zu alt, hätte Wien zu spät besucht. Tetrazzini trat nie wieder in Wien auf.

Nachhall

Luisa Tetrazzini gab noch einige Jahre erfolgreich Konzerte und nahm auch noch Schallplatten auf. Sie starb verarmt im Jahr 1940 in Mailand. 
100 Jahre nach ihren großen Erfolgen können ihre Aufnahmen immer noch nachgehört werden.
Bekanntheit bis über ihren Tod hinaus erlangte sie außerdem durch "Pasta Tetrazzini", ein Nudelgericht, das nach ihrem Auftritt in San Francisco nach ihr benannt worden war. Rezept für Spagehtti Tetrazzini von Jamie Oliver

Juni 2023

Per Audiobrief durch die Galaxis

Damit intelligente Wesen in fernen Zeiten und Galaxien vom Planeten Erde und der Menschheit erfahren können, auch wenn beide längst verschwunden sind, schickte die NASA 1977 zwei goldene Schallplatten ins All, darunter auch die Audiobotschaft eines bekannten Österreichers.

Eva Hallama sammelt Audiobriefe, vor allem solche, die weite Wege zurückgelegt haben und von einer fernen Welt zeugen, die nicht vergessen werden will.

00:00:45
Greeting from Kurt Waldheim, Secretary-General of the United Nations

Kurt Waldheim hat sich in die Geschichte Österreichs vor allem als Präsidentschaftskandidat mit der verschwiegenen NS-Vergangenheit eingeschrieben. Aber fast genau 10 Jahre vor seinem umstrittenen Präsidentschaftswahlkampf, als seine SA-Mitgliedschaft noch ein gut gehütetes Geheimnis war, verewigte er sich mit einer Grußbotschaft auf einer besonderen Schallplatte.

Als Generalsekretär der UNO sprach er die erste Audiospur der Golden Record, die mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 im Jahr 1977 ins All geschossen wurde. Im Namen der Menschen des Planeten Erde schickte er Grüße des Friedens und der Hoffnung an eine um Lichtjahre entfernte Zukunft, an unbekannte außerirdische Wesen im interstellaren Raum.

Wie immer bei Audiobriefen benötigen die Empfänger:innen ein Abspielgerät, um die Nachricht hören zu können. Ein Plattenspieler befindet sich zwar nicht an Bord der Voyager, aber Nadeln und eine symbolische Anleitung, wie diese Platten abgespielt und dekodiert werden können.

Auf der Platte sind auch über 100 analoge Bilder gespeichert, die über die Menschheit, deren Anatomie und Errungenschaften in Kunst, Wissenschaft und Sport Aufschluss geben sollen. Als Audioaufnahmen sind neben der Botschaft Waldheims gesprochene Grüße in 55 Sprachen, außerdem verschiedene Geräusche der Erde wie Wind, Donner und Tiergeräusche zu hören. Sofern sie die Bedienungsanleitung verstanden haben, können die intelligenten Wesen anschließend, auch noch in mehreren Millionen Jahren, der Musik von Bach, Beethoven oder Mozart lauschen.

Die Platte hat einen Durchmesser von 30 Zentimetern, sie ist aus Kupfer und hat eine vergoldete Schutzhülle, die ein Isotop enhält, das mit der Zeit zerfällt. Dieses kann den Außerirdischen, sollte die Platte tatsächlich Empfänger:innen finden, bei der Bestimmung des Alters behilflich sein.

 

Mai 2023

Nummern im Archiv – die Signaturnummer

Was wäre ein Archiv ohne Nummern? Die Signaturnummer und was sie uns verrät…

Marion Jaks beschäftigt sich als digitale Archivarin mit der Langzeitarchivierung unserer Files, frönt dabei noch immer ihrer Leidenschaft der Videoarchivierung, und kann so ihrer Freude an Problemlösungen und technischen Herausforderungen nachgehen.

01:48:35

Straßenbahn in Wien, Linie D. Südbahnhof - Nußdorf
VHS-Kassette mit der Signatur „V-04402“

Nummern sind es, die eine Sammlung von einer Ansammlung unterscheiden. Die Signaturnummer ist der Wegweiser zu den Archivalien der Österreichischen Mediathek. Sie ist eine eindeutige Nummer, die einem bestimmten Archivobjekt zugeordnet ist und mittels derer man das gesuchte Medium in der Aufstellungsordnung der OEM finden kann. Der Begriff „Signatur“ entstammt ursprünglich dem Bibliothekskontext, wo sie zur Kennzeichnung eines Buches verwendet wird.

Im Sprachgebrauch der Mediathek steht die Signaturnummer oft für das Objekt selbst. Ein typisches Telefonat in der OEM beinhaltet oft einen Satz: „Kannst du mir bitte die Signatur ansagen?“ Spätestens jetzt weiß man, das Gegenüber hat bereits die Katalog-Datenbank geöffnet und ist bereit für eine Spurensuche. Die Signatur ist die Nummer, unter der jeder Arbeitsschritt und jede Information zu diesem Objekt in der digitalen Langzeitsicherung zu finden ist. Das analoge Medium ist somit über die Signatur mit ihren digitalen Ausprägungen verbunden: die Signaturnummer ist die Brücke in die digitale Welt. Genauso wie man mit einer Signaturnummer in die Depoträume gehen kann, um eine bestimmte Videokassette zu finden, kann man sich mit dieser Nummer virtuell auf unseren Serversystemen bewegen und alles Digitale zu dem Objekt herausfinden.

Die Signaturen der OEM beginnen in der Regel mit einem Präfix – einer Nummer bzw. Nummern-Buchstaben-Kombination, die für eine bestimmte Medienart steht.
Für diesen Text folgen wir dem Beispiel der Signaturnummer „V-04402“. Diese Signatur steht für eine bestimmte VHS-Kassette. Das erkennen wir an dem Präfix „V“. Nach dem Präfix folgt eine 5-stellige fortlaufende Nummer – auch „Nummerus Currens“ genannt.
Mit dem Präfix wissen wir nun, dass wir dieses Medium in der Aufstellung der VHS-Kassetten finden. Darüber hinaus gibt das Präfix darüber Auskunft, was in der digitalen Ausprägung der Kassette zu erwarten ist: nämlich eine Videoaufnahme, die durch die Arbeitsschritte der Videodigitalisierung gegangen ist.
Im digitalen Archiv kann die Signatur durch Suffixe ergänzt sein, welche Relationen der Files zum analogen Medium beschreiben, wie hier das Suffix "01", das beschreibt, dass es sich um das erste Inhaltssegment auf dem analogen Träger handelt.

Mit der Signatur kann das gesuchte Medium als exakter Treffer in der Katalogdatenbank der OEM gefunden werden. Hier erfährt man, dass es sich um eine Eigenaufnahme der Österreichischen Mediathek aus dem Jahr 1990 handelt, wo eine Fahrt mit dem D-Wagen und der damalige Wiener Südbahnhof auf Video festgehalten wurde. Nun können wir nach dieser Signatur in der Verwaltung der digitalen Langzeitarchivierung „MEDIAS“ suchen und finden eine Übersicht aller digitalen Ausprägungen, dieser Videoaufnahme: von Archivmaster, Ansichtskopie, bis hin zu unserer öffentlich zugänglichen Kopie auf unserer Website, die in diesem Beitrag verlinkt ist.
Viel Freude bei der Fahrt mit dem D-Wagen!


April 2023

Einkaufen leicht gemacht

So lautet der Titel eines 1952/53 produzierten Films, der Selbstbedienung im Lebensmittelhandel als Nonplusultra des Einkaufens anpries. Neben dem Entstehungskontext finde ich spannend, wie die neue Praxis der Selbstbedienung visualisiert und Einkaufen gesellschafts- und geschlechterpolitisch verhandelt wurde.

Christina Linsboth arbeitet im Sammlungs- und Webteam der Österreichischen Mediathek, hat ein Faible für konsumhistorische Themen und mag die Vielschichtigkeit audiovisueller Quellen.

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Ausschnitt aus „Einkaufen leicht gemacht“ (1952/53)

Einkaufen leicht gemacht ist die deutsche Fassung eines in Dänemark bzw. Frankreich entstandenen Films, wurde vom Österreichischen Produktivitätszentrum bzw. seinem Filmdienst verbreitet und sollte wie die anderen Filme des Zentrums – der Name sagt es schon – dazu beitragen, die wirtschaftliche Produktivität und Rationalität zu steigern. Wesentliches Ziel war aber vor allem, die Anstrengungen des Marshall-Plans deutlich und die Zuseher_innen mit dem US-amerikanischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem vertraut zu machen.

Als Einkaufen leicht gemacht 1953 erstmals gezeigt wurde, war in Österreich Selbstbedienung im Lebensmittelhandel noch kaum verbreitet. Im Mai 1950 hatte das erste Geschäft in Linz eröffnet, rund einen Monat später folgten zwei Läden in Graz, Ende des Jahres einer in Wien. Die Salzburger Nachrichten fragten sich zu diesem Zeitpunkt noch, „ob das österreichische Publikum dauernd an einer Selbstbedienung Gefallen finden“ würde. 1953 war ein Jahr, in dem sich die Lebensmittelversorgung in Wien stabilisierte, auch wenn Konsumverzicht und Sparsamkeit zentrale Erfahrungen blieben. Wer mehr verdiente, konnte sich mehr und hochwertigere Nahrungsmittel leisten oder an die Anschaffung langlebiger Konsumgüter wie Haushaltsgeräte denken.

Die visuellen, musikalischen und sprachlichen Strategien, mit denen der Film den „Fortschritt“ im Einzelhandels- und Konsumbereich präsentiert, verdienen einen näheren Blick. Beachtenswert sind auch der Topos der modernen (Hausfrau-)Konsumentin inklusive männlicher Erzählstimme oder das Versprechen, als Konsumentin über die eigene Zeit verfügen und die Produktwahl bestimmen zu können. Dazu greift der Film langlebige Erzählmuster, indem er beispielsweise neue Formen des Verkaufs – in diesem Fall die Selbstbedienung – in Abgrenzung zu „Großmutters Zeiten“ bewirbt und Einkaufen zwischen belastender Routine und lustvollem Shopping ansiedelt.

Hier finden Sie weitere Filme des ÖPWZ (etwa zum Kraftwerkbau).


März 2023

Das Ablösen der Burgwache in Wien als Hörerlebnis aus der Zeit um 1910

Im Archiv der Österreichischen Mediathek ruhen einige Tonaufnahmen von einem Altwiener Mythos – der Burgmusik, damals bekannt und beliebt als „Burgmurrer". Die Musikkapellen zweier Infanterie-Regimenter sorgten mit ihrer Marschmusik für eine eindrucksvolle Klangkulisse.

Rainer Hubert hat die „Burgmusik“ immer wieder im Rahmen verschiedener Lehrgänge vorgeführt, weil sich manche historische und mediale Sachverhalte mit dieser „Live-Aufnahme“ von anno dazumal gut erläutern lassen.

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Aufziehen und Ablösen der Burgwache.
Kapelle des Infanterie-Regimentes No. 4 Hoch- und Deutschmeister

Was einst, vor dem Ersten Weltkrieg, alltäglich war, ist Jahrzehnte später nicht einmal mehr vage Erinnerung: die Burgmusik in der Wiener Hofburg! Um die Mittagszeit fand täglich die Wachablöse statt: das eine, den Sitz des Kaisers bewachende Regiment verlässt mit klingendem Spiel den Inneren Burghof und wird von einem anderen abgelöst, das nun den Wachdienst übernimmt. – Die Militärkapellen und die bunten Uniformen sind ein Spektakel für Augen und Ohren von Menschen, die dabei nicht an Krieg und Tod denken oder nicht denken wollten. ­­­­Noch herrscht Friede, Friede schon seit Jahrzehnten. Wenige Jahre – und all das wird in Blut und Grauen untergehen.

Es ist daher das Echo aus einer ganz anderen Welt, das uns anweht, wenn wir diese Wachablöse im Tondokument heute anhören – die Kommandos, die Jubelrufe aus dem Publikum, samt Kaiserhymne und Regimentsmärschen. Ein Echo, das einen sehr sinnlichen Zugang zur Vergangenheit vermittelt – eine ganz andere Art von Information, als etwa schriftliche Beschreibungen von diesem täglichen Ereignis. – Die Klangkulisse der Wachablöse ist mehrmals mit unterschiedlichen Militärkapellen aufgenommen worden und fand in Form von Wachszylindern und Schellackplatten den Weg zu den Abspielgeräten in den bürgerlichen Wohnungen.

Nicht nur der Ablauf der Wachablöse ist hoch formalisiert, sondern auch die Aufnahmen folgen einem bestimmten Schema: Jeweils an dramaturgisch passender Stelle ertönt – naiv gestellt – Jubel oder ein „Bravo!“ aus dem Publikum. – Der zentrale Punkt des Ablaufes – neben den Kommandos – ist das Anspielen der Kaiserhymne: Das „Gott erhalte!“, die „Volkshymne", also das zentrale musikalische Identifikationsmerkmal der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Haydn-Hymne mit einem Text, der jeweils in leicht veränderter Form auf den regierenden Herrscher zugeschnitten wurde: „Gott erhalte, Gott beschütze Unsern Kaiser, Unser Land!“. – Heute ist die Melodie die Hymne Deutschlands, eine verwirrende musikalisch-politische Umpolung.

00:02:46

Aufziehen und Ablösen der Burgwache in Wien.
Hörbild

00:02:18

Aufziehen und Ablösen der Burgwache in Wien.
Columbia

Aufziehen und Ablösen der Burgwache in Wien.
Zonophone Record
Kapelle des Infanterie-Regimentes No. 51 Freiherr von Probszt

00:02:55

Aufziehen und Ablösen der Burgwache.
Kapelle des Infanterie-Regimentes No. 51 Freiherr von Probszt (andere Einspielung)

00:02:55

Aufziehen und Ablösen der Burgwache.
Kapelle des Infanterie-Regimentes No. 8 Erzherzog Karl Stefan


Februar 2023

„I can’t tell you my whole life story - cause I’m still alive.“

Die längste lebensgeschichtliche Erzählung, die die Sammlung MenschenLeben zu bieten hat, ist mein Archivist’s Choice. Aber nicht die Dauer fasziniert, sondern der Esprit, den der 101-jährige Eric Sanders im 38-stündigen Zoom-Interview mit Bernadette Edtmaier versprüht.

Johanna Zechner leitet das Oral-History Projekt MenschenLeben an der Österreichischen Mediathek, hat ein beruflich bedingtes Interesse für biografische Erzählungen sowie eine biografisch bedingte Schwäche für britisches Englisch.

Als Kind wurde Eric von allen Erich genannt. Obwohl er Ignaz hieß, erzählt er. Dass dem so sei, erfuhr er erst bei seiner Schuleinschreibung, zu der ihn seine „schöne Mutti“ begleitet hatte. Woran sich Eric Sanders erinnert, ist zum Zeitpunkt der Erzählung 95 Jahre her. Sein Wohnort und seine Schule im 15. Bezirk in Wien lagen 300 Meter Luftlinie von jener Volkschule entfernt, die meine Tochter heute besucht. Gehe ich vielleicht dieselben Wege wie dieser Mann vor einem Jahrhundert? Mit dem Unterschied, dass ich es nicht verlassen musste, mein Wien?

Eric Sanders hat seine Geschichte oft erzählt. Und er hatte allen Grund dazu: 1919 in Wien als Ignaz Schwarz geboren und aufgewachsen, gelang ihm 1938 die Flucht vor den Nationalsozialisten und die Emigration nach England. Dort arbeitete er zuerst als Volunteer im German Jewish Aid Committee, dann als Landarbeiter und folgte, zornig auf die Nationalsozialisten und enttäuscht über sein Herkunftsland, im Februar 1940 einem Radioaufruf zum Eintritt in die britische Armee, wo er u. a. einer Spezialeinsatztruppe des British Secret Service diente. 1946/1947 verbrachte er als Besatzungssoldat einige Monate in Wien. Seine Ankunft am Westbahnhof, von wo er 1938 seine Flucht antrat, war eine emotionale Erfahrung, wie er im Interview schildert.

Zurück in England absolvierte Sanders nach dem Krieg mehrere Ausbildungen, wurde Lehrer und gründete eine Familie. Und auch wenn seine Art zu erzählen und seine Sprechweise unendlich britisch wirken, reflektiert Eric Sanders gegenüber seiner Interviewerin Bernadette Edtmaier trocken: „No, you never become an Englishman.“ Das war knapp zweieinhalb Monate vor seinem Tod.

Trotz seiner Erfahrungen war er bis zu seinem Lebensende mit Wien verbunden und hat seine Lebenserinnerungen mehrfach geteilt. Ein letztes Mal erzählte Eric Sanders seine Lebensgeschichte 38 Stunden lang via Zoom und nahezu ohne Zwischenfragen für die Sammlung MenschenLeben. Auch wenn sich der 101-Jährige manchmal verzettelt; der Detailreichtum seiner Erinnerungen ist faszinierend. Genau wie sein Humor.

Das MenschenLeben-Interview wurde online geführt und umfasst insgesamt 20 Videofiles.

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Jänner 2023

Ein Heurigenbesuch anno 1927 oder „Herr Berliner, sama wieda guat. Es lebe der Anschluss!“

Die Wahl fiel auf das humoristische Tonbild „Beim Heurigen“, eine Schellackplatte aus dem Jahr 1927. Dieses beliebte Genre versetzte die Zuhörerschaft in eine chaotische Straßenbahn, zu Frau Birnstingels Leiche, den Zug zur Rodelpartie am Semmering oder eben zum Heurigen.

Anton Hubauer ist „Allrounder“ der Österreichischen Mediathek. Von Webausstellungen, Sammlungsevaluierung, Digitalisierung und Katalogisierung bis zum Publikumsbetrieb reicht sein Aufgabenbereich.

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Beim Heurigen

Humoristisches Tonbild mit Richard Waldemar aus dem Jahr 1927.

In der Österreichischen Mediathek findet sich dieses Genre unter den Tonaufnahmen des Wiener Schauspielers und Operettensängers Richard Waldemar (1869 – 1946).

Am Beginn hört man das Stimmengewirr eines Wiener Heurigen, es kommt zum Streit zwischen deutschen und einheimischen Gästen, aber am Ende obsiegt das „Goldene Wienerherz“ – inklusive Versöhnung. Der letzte Satz lautet:

„Herr Berliner, sama wieda guat. Es lebe der Anschluss!“

Hier liegt der Grund für meine Wahl, kommt doch eine völlig unerwartete politische Komponente ins Spiel. Ist es ein Zeugnis dafür, wie 1927, nicht nur, aber auch, über Österreichs Eigenstaatlichkeit gedacht wurde?

Richard Waldemar erhielt nach dem „Anschluss“ Österreichs 1939 den Ehrenring der Stadt Wien und kam 1944 auf die „Gottbegnadeten-Liste“ des Reichspropagandaministeriums, eine ‚Privilegierung‘ der kulturellen Elite des Nationalsozialismus, aber er war kein NSDAP-Mitglied.

Als seine Platte „Beim Heurigen“ 1927 auf den Markt kam, gab es durch Heimwehr und Schutzbund als bewaffnete Parteiformationen massive innenpolitische Gewalt, die in den Schüssen von Schattendorf und dem Brand des Justizpalastes gipfelten.

Aber es gab auch eine leichte Erholung der Wirtschaft durch die Völkerbundanleihe 1922 sowie die Einführung des Schillings 1925, des legendären Alpendollars. Weder Weltwirtschaftskrise noch Hitlers Machtergreifung waren vorstellbar. Die Reichstagswahl 1928 brachte der NSDAP 2,6 % der Stimmen.

Wie sah 1927 die „Eigenwahrnehmung“ der jungen Republik aus? „Heim ins Reich“ - der Anschluss an Deutschland - war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Den Anschluss hatte schon die provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs am Ende des Ersten Weltkrieges beschlossen. 1919 wurde er im Friedensvertrag von St. Germain verboten. 1922 wurde das Verbot als Auflage für die Völkerbundanleihe bekräftig. Der Wunsch war nicht nur „Deutschtümelei“, 1930 nannte ihn Julius Deutsch im Nationalratswahlkampf das große Ziel der Sozialdemokratie. Eine wirkliche demokratische Entscheidung über diese Frage sollte es aber nie geben.

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Dezember 2022

Eine Reportage aus einem deutschen U-Boot während des 2. Weltkriegs

Ein privates Dokument, das die Stimme des jungen Vaters für die Familie festgehalten hat, aber gleichzeitig ein öffentliches Dokument der Propaganda und des Krieges ist.

Robert Pfundner sieht es als seine Herzensangelegenheit, historische AV-Dokumente durch sachgerechte Aufbewahrung und inhaltliche Einordung der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Berichte vom Kriegsgeschehen während des 2. Weltkriegs sind selten unmittelbar und blenden meist die Gefühle der Soldaten aus. Meist werden danach die Folgen – die Zerstörungen – in Bildern gezeigt. Die Angst vor dem eigenen Tod und dem Töten anderer Menschen wird häufig durch technische Beschreibungen von Waffen oder Alltagsbeschreibungen des Soldatenlebens überlagert, das hauptsächlich aus Warten und oft aus Ortsveränderungen besteht.

Auch in diesem vierteiligen Bericht steht die Technik der U-Boote im Mittelpunkt. Trotzdem gibt er dem heutigen Hörer / der heutigen Hörerin ein Gefühl des unmittelbaren Dabeiseins. Die Briefe eines mit 23 Jahren gefallenen Mitglieds der U-Bootbesatzung über diese Feindfahrt erinnern frappant – so wie der Typ des U-Bootes (VII-C) des U-596 – an den Film „Das Boot“ nach dem Roman von Lothar Buchheim mit Wasserbombenverfolgung und Sauerstoffmangel (siehe: U-boot-Schicksal im 2. Weltkrieg In: my heimat.de).

Im Hafen Salamis bei Athen gingen Ende September 1943 der Kriegsberichter Hans Jesse und der Tontechniker Fritz Sippl, Mitarbeiter der deutschen Propagandakompanie, an Bord des U-Boots. Die damals hochmodernen Tonaufzeichnungen mit einer Magnettonbandmaschine wurden danach zu einer Reportage auf Kunststoff-(Decelith-)Platten montiert. Es handelt sich um vier Platten, da eine Platte jeweils nur eine Laufzeit von etwa 4 bis 5 Minuten pro Seite hatte. Eine große technische Leistung diente als Vehikel einer zeittypischen, pathetischen Beschreibung im Dienst der NS-Kriegspropaganda, ein Bericht vom Töten auf Distanz.

Die U-Boote der deutschen Kriegsmarine brachten Tod und Zerstörung. Von den 31.000 deutschen U-Bootfahrern wurden 25.870 getötet. Der Tontechniker DI Fritz Sippl überlebte den Krieg, heiratete, wurde Vater einer Tochter und arbeitete u.a. lange Jahre bei der österreichischen Studiotechnikfirma AKG. Seine Tochter stellte die Reportage der Österreichischen Mediathek und der Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Originalplatten verblieben in der Familie.

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U-Boot-Reportage (1. Teil)
00:04:02
U-Boot-Reportage (3. Teil)
00:04:12
U-Boot-Reportage (2. Teil)
00:03:29
U-Boot-Reportage (4. Teil)

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November 2022

Ein Wissenschaftler mit Hut und Badehose, eine Forscherin im Bikini und ein geimpftes Meerschweinchen

Das sind einige der Eindrücke, die mir bei der Betrachtung des Filmes vordergründig in Erinnerung geblieben sind. Doch worum geht es tatsächlich im Film „Thermalstollen Bad Gastein-Böckstein“?

Gabriele Fröschl leitet die Österreichische Mediathek und findet alte Wissenschaftsfilme interessant, weil sie auf den ersten Blick oft sehr kurios wirken, sich aber bei näherer Beschäftigung plötzlich viele Aspekte auftun, die diese Filme zu einer wichtigen Quelle der Wissenschafts- und Sozialgeschichte werden lassen.

Die Begleitpublikation dieses 1956 entstandenen wissenschaftlichen Filmes aus dem Fachbereich Medizin, Veterinärmedizin, Psychologie, Ethologie „berichtet von der wissenschaftlichen Untersuchung und von der Erschließung des 1940 entstandenen Pasel-Stollens im Radhausberg bei Böckstein, der wegen der ungewöhnlich hohen Gesteinstemperatur bis 44°C und dem Vorkommen radioaktiver Spurenstoffe am Gestein und in der Stollenluft aufgefallen war.“ Die im Böckstein-Stollen bei Gastein praktizierte Radontherapie wurde und wird auch heute noch für die Behandlung rheumatischer Erkrankungen des Bewegungsapparates, bei Erkrankungen der Atemwege sowie der Haut eingesetzt.

Was audiovisuelle Medien vermitteln können, das wird hier deutlich. Die Beschreibung der damals erstellten Begleitpublikation kann den zahlreichen Metaebenen des Films nicht gerecht werden: Die filmische Umsetzung wirkt auf uns heute antiquiert, nicht nur aufgrund äußerlicher Merkmale wie Kleidung oder abgebildeter Technik, sondern auch aufgrund des Tonfalls des Sprechers und der Machart des Filmes, der eine etwas seltsam anmutende Mischung aus wissenschaftlichem Film und Imagefilm für die angebotenen Kuren ist. Beschäftigt man sich näher mit der Geschichte des Stollens –  ein Aspekt, der im Film nicht thematisiert wird – stößt man auf Hinweise bezüglich NS-Zwangsarbeit. Viele Fragen bleiben offen: Wer waren die Wissenschaftler_innen? Was war ihr Forschungsgebiet? Wie wirkt die Radontherapie? Wer hat den Film in Auftrag gegeben? Wie ist man auf die Idee zur Umsetzung gekommen? Als Archivarin würde man sich bei all diesen Filmen sehr viel mehr Zeit zur inhaltlichen Aufarbeitung wünschen als im Arbeitsalltag vorhanden ist – um der Quelle in all ihren Dimensionen gerecht zu werden.

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Oktober 2022

„Keine Geschichte kann isoliert erzählt werden“ – Über die „Musicbox“ und die Entwicklung der Wiener Popkultur

Ein Interview mit Wolfgang Kos als Ausgangspunkt für einen Streifzug durch die Geschichte der Wiener Populärmusik als mein Archivist’s Choice. Einfach, weil es Lust macht, sich aus der eigenen Plattensammlung wieder einmal die eine oder andere Perle österreichischen Musikschaffens zu Gehör zu bringen.

Stefan Kaltseis leitet die Digitalisierung an der Österreichischen Mediathek und sorgt darüber hinaus für den Ankauf von österreichischen Neuerscheinungen aus den Bereichen Rock, Pop und Jazz für das Archiv.

Die beiden Kulturjournalisten und Radiomacher Walter Gröbchen und Thomas Mießgang steckten sich ein ambitioniertes Ziel: Für ihr 2013 im Falter-Verlag erschienenes Buch WienPOP interviewten sie mehr als 100 Musiker_innen und Wegbegleiter_innen zur Geschichte der Wiener Popmusik. Ein Teil dieser Interviews kann auf der Website der Österreichischen Mediathek nachgehört werden.

Mit seiner prägnanten Radiostimme erzählt der Historiker, Journalist und damalige Direktor des Wien Museums Wolfgang Kos von der Entstehung der legendären Ö3-Radiosendung Die Musicbox. Er spricht über ihre Macher_innen genauso wie über die darin vorgestellten Bands und Musiker_innen und bettet diese Erzählung in ein breiteres Nachdenken über österreichische Popmusik ein. Für ihn war die Musicbox immer ein Fenster zur Welt.

Querverweise zum internationalen Musikschaffen machen deutlich, dass die österreichische Musikproduktion in all ihren Spielarten nie als davon abgekoppelt rezipiert werden kann. Ob es der von Kos verehrte Bob Dylan ist, Lou Reed oder die Rolling Stones. Musik Made in Austria war nie etwas ausschließlich Eigenständiges. Als Beispiel führt er die 1962 in Mödling gegründete Band Rolling Beats an. Nomen est Omen. Die musikalischen und popkulturellen Einflüsse, ob aus England oder den USA, arbeitet Kos in seiner brillanten Analyse der Wiener Popmusikgeschichte detailreich heraus.

Das Spektrum des Gesprächs reicht dabei von der Worried Men Skiffle Group und den Jack’s Angels über Novak‘s Kapelle und Drahdiwaberl bis hin zu Wolfgang Ambros und einer diskursiven Auseinandersetzung um den Begriff des „Austropop“. Dass er darüber hinaus Namensgeber der legendären Formation Ostbahn Kurti und die Chefpartie war, deren „Chef“ Willi Resetarits in diesem Frühjahr auf tragische Weise ums Leben kam, ist nur ein Nebensatz in einem Interview, das in seiner Dichte die Geschichte der Wiener Popmusik nachzeichnet, wie es nur selten mit solcher Begeisterung und in dieser Ausführlichkeit zu hören ist.

01:57:15
Interview mit Wolfgang Kos über die Wiener Popmusik (1. Teil)
00:08:57
Interview mit Wolfgang Kos über die Wiener Popmusik (2. Teil)

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September 2022

Goethes Erlkönig

... vorgetragen von Gerhard Rühm im November 1977 bei der Literaturveranstaltung "Trara, trara, die Hochkultur" an der Universität Wien. Rühm bringt dafür ein Tonband mit und spielt den darauf aufgenommenen Gedichtvortrag vor – eine Aufnahme in der Aufnahme mit einigen Überraschungen. Hören Sie sie bis zum Ende – es lohnt sich!

Peter Ploteny vertieft sich unter anderem in die rechtlichen Möglichkeiten der Verwendung von audiovisuellen Medien und hört gerne Literaturlesungen.

Die berühmte, mehrfach vertonte, oft rezipierte und vielfach auch parodierte Ballade Erlkönig von Johann Wolfgang Goethe wird hier von Gerhard Rühm auf besondere und eigenwillige Art und Weise vorgetragen. Rühm betont, dass es sich bei seinem Vortrag um eine akustische Version des Erlkönig handle und er an diesem Gedicht nichts verändert habe. Und erklärt dem zum Teil schon ungeduldig werdenden Publikum: "... das muss man als Musikstück anhören, ist ein unheimlich klasses Musikstück, find ich." Am Ende des Ausschnitts erläutert Rühm seine Erfahrungen während der Aufnahme und die, seiner Meinung nach, quasi auditive Mitlesbarkeit von Goethes Gedicht in dieser, Rühms, Fassung.

Gerhard Rühm, 1930 in Wien geboren, wo er auch Komposition und Klavier studierte, überschreitet in seinen Werken Grenzen zwischen Literatur, Musik, bildender Kunst, Fotografie und Performances - das zeigt sich auch in der ausgewählten Aufnahme. Als Erneuerer der Sprachverwendung erweitert Rühm die Möglichkeiten der gemeinsamen, verbindenden Ausdrucksformen der Materialien Sprache, Musik und darstellende Kunst in seinem universalen Schaffen.

In den 1950er Jahren begründet er mit H. C. Artmann, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener die „Wiener Gruppe“ und steht mit Persönlichkeiten wie Friederike Mayröcker, Elfriede Gerstl, Ernst Jandl, Gerald Bisinger, Andreas Okopenko und  vielen anderen in engem persönlichen und künstlerischen Kontakt. 1978 wird Rühm Präsident der Grazer Autorenversammlung. In den 1960er Jahren übersiedelt Gerhard Rühm wegen mangelnder Anerkennung seines Werks in Österreich nach Deutschland, lebt in West-Berlin und Köln und wirkt von 1972 bis 1995 als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. 1991 erhält Rühm den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur.

 

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Erlkönig

Seit 1968 hat die Österreichische Mediathek zahlreiche Autorenlesungen und Vorträge von und mit Gerhard Rühm auf Tonband aufgezeichnet: Hier zum Anhören.

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August 2022

Hojotoho! Zur Datierung von Schellackplatten

Mein Archivists Choice ist eine Schellackeinspielung von Maria Jeritza aus den 1930er Jahren. Jeritza, eine der größten Opern-Diven des 20. Jahrhunderts singt eine Arie der Brünnhilde aus der Walküre, dem 3. Teil von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“. Ich mache mich auf die Suche, um mehr über die Entstehung der Aufnahme herauszufinden.

Johannes Kapeller ist begeistert von Schellackplatten als Medium, Richard Wagners Musik fasziniert und langweilt ihn gleichermaßen. Er hat leider zu selten Zeit, in Aufnahmen hineinzuhören und ihnen nachzuforschen, genießt dies dann aber umso mehr. 

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Maria Jeritza singt Wagner

Hojotoho! Brünnhildes Schlachtruf
aus: Die Walküre

Ho-jo-to-ho

Maria Jeritza nahm in ihrer langen Karriere zahlreiche Schallplatten auf. Ich habe – mehr oder weniger zufällig – eine ihrer Aufnahmen ausgewählt und möchte nun bei einem diskographischen Ausflug in die Vergangenheit mehr über ihre Entstehung herausfinden.

Schellacks haben in den meisten Fällen kein Plattencover, die Aufnahmen sind fast nie datiert. Labelinformationen, wie der Titel und die Interpretin, die in die Platte eingepressten Matrizennummern sowie die hörbare Aufnahme selbst sind oft die einzigen Informationen, die vorhanden sind.

Eine erste Recherche im Bilderlexikon der deutschen Schellack-Schallplatten schränkt das Veröffentlichungsdatum zumindest auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 ein. Onlinehilfsmittel erleichtern die weitere Suche nach diskographischen Informationen. So beinhaltet z.B. die Onlinevariante des Schallplattenverzeichnisses von Alan Kelly mittlerweile über 410.000 Einträge. Auch bei Jeritza wird man fündig: Im Katalogeintrag finden sich sowohl Bestell- und Matrizennummer der Electrola-Aufnahme, deren Aufnahmeort (die Liederkranz Hall in New York), das Aufnahmedatum (15. Februar 1930) als auch eine zusätzliche Bestellnummer und ein Hinweis auf den Dirigenten der Aufnahme (Nathaniel Shilkret). Mit diesen neuen Hinweisen ergeben nun auch einige Ergebnisse, die ich bei der vorherigen Suche verworfen habe, einen Bezug zur Archivaufnahme: Eine Youtube-Variante der Einspielung stellt sich als unveröffentlichte Variante der ursprünglichen Einspielung heraus. Auch auf Discogs und in archive.org finden sich Belege der Aufnahme.

Die Suche endet vorerst in der Discography of American Historical Recordings, in der noch Angaben zur Besetzung des Aufnahmeorchesters sowie Belege für die Datenquellen zu finden sind.
Die Ausgangsfrage nach dem genauen Veröffentlichungsdatum der Schellackplatte auf Electrola bleibt vorerst offen ...
Falls Sie dazu Informationen, Verkaufskataloge oder andere sachdienliche Hinweise haben, würde mich das sehr freuen!

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Juli 2022

Knoten – der Schwabenklank

­­„… der Knoten ist aus unserem Leben nicht wegzudenken.“ Schnappen Sie sich ein Seil und üben Sie mit uns den Schwabenklank, die Rautekschlinge und den Prusikknoten! Und erfahren Sie, wie begleitendes Archivmaterial uns hilft, mehr über diesen Film zu verstehen.

Marion Jaks beschäftigt sich als digitale Archivarin mit der Langzeitarchivierung von Files, frönt dabei noch immer ihrer Leidenschaft der Videoarchivierung und kann so ihrer Freude an Problemlösungen und technischen Herausforderungen nachgehen.

Der Film zeigt die Erstellung einiger Knoten und erklärt ihre Anwendung. Entstanden ist er 1966 durch eine Zusammenarbeit der Abteilung Wissenschaftlicher Film der Bundesstaatlichen Hauptstelle für Lichtbild und Bildungsfilm, Wien (SHB) mit der Schule für Film und Fernsehen an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien (heute Filmakademie Wien) unter fachlicher Expertise von Franz Rautek. Dieser ist vor allem als österreichischer Vorreiter des Jiu-Jitsus und Erfinder des „Rautek-Griffs“ zur Rettung bewusstloser Personen bekannt. Die Knotendemonstration ist ein wohl ‚zeitloser‘ Lehrfilm, der auch heute seine Intention erfüllt: Man kann mit ihm Knoten lernen.

Inhaltlich könnte man hier stehen bleiben, doch stellen sich viele Fragen, wenn der Kontext zum Film fehlt. Umfangreiches Material finden wir in den Filmakten des ÖWF, darunter Schriftverkehr und Begleitmaterial rund um die Entstehung, aber auch Informationen zu Vorführungen. Zusätzlich enthält der Akt Broschüren zu „Rautek-Griff“ und „Rautekball“, einer Variation des Federballs.

Kennt man den ÖWF-Filmbestand, fällt auf, dass das Thema „Knoten“ ein eher untypisches war. Auch das findet seinen Ausdruck im Filmakt (C1173). So liest man, dass die Produktion auf Anregung von Franz Rautek passierte und, dass der Film nicht so recht ins inhaltliche Schema der Abteilung passen wollte. Man suchte nach Lösungen, ihn trotzdem zu realisieren.

Dankwart G. Burkert, Leiter der Abteilung Wissenschaftlicher Film, schrieb daher am 19. Jänner 1965 an Prof. Hans Winge von der Filmschule: „Herr Sportlehrer Franz Rautek (...) ist auch Spezialist für Seilknoten und hat vorgeschlagen, über dieses Thema einen Demonstrationsfilm herzustellen. Nun lässt sich dieses Thema schwer in eine wissenschaftliche Fachdisziplin einordnen und darum kaum im Produktionsplan unterbringen. Andererseits erscheint es uns gerechtfertigt, solche speziellen Leistungen eines Österreichers zu dokumentieren.“ Schließlich folgt der Vorschlag, den Film in einer gemeinsamen Produktion mit „Studenten des letzten Jahrgangs“ der Filmschule umzusetzen – was dann auch geschah.

zum Weiterschauen: Helfen und Bergen – Rettungsgriffe nach Rautek aus der Sammlung ÖWF

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Juni 2022

Werbung, die (fast) vergessen ist

­­Dieses Mal ist eine fast vergessene Werbeform mein Archivist’s Choice. Zwischen den zahllosen Jazz- und Swing-Aufnahmen, die der Schellacksammler Günther Schifter der Österreichischen Mediathek übergeben hat, verbirgt sich eine Werbeschallplatte mit dem „C&A Walzer“ und dem „C&A Marsch“. Sie erzählt von der Konsum-, Alltags- und Phonogeschichte der 1930er Jahre.

Christina Linsboth arbeitet unter anderem im Sammlungs- und Webteam der Österreichischen Mediathek und spürt gerne den ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Geschichten historischer Objekte nach.

„Ein Kleiderkauf wird immer zum Vergnügen“, singt Erwin Hartung 1936 zu Marschmusik. An „Fritz und seinem Schwager Klaus“ sehe man, wie gut sich Männer kleideten, wenn sie bei C&A kauften. Auf der zweiten Plattenseite heißt es zu Walzermelodie: Wer einen „Formtreu“-Anzug – die Eigenmarke con C&A – trage, sehe chic und gepflegt aus. Hartung, einer der bekanntesten (Schallplatten-)Sänger der 1930er, besingt hier schwungvoll eines der größten Konfektionsunternehmen Deutschlands auf einer von Telefunken produzierten Platte.

C&A Marsch (1936)

C&A Walzer (1936)

Dass Tonaufzeichnungen als Werbemedium genutzt wurden, war nichts grundsätzlich Neues. Schon 1905 pries eine „Reclame-Record“ die Vorzüge des Phonographen an. In den 1930ern waren Werbeaufnahmen für Telefunken ein etabliertes Geschäftsfeld, wie sich am Tonträger selbst ablesen lässt: Die mit „T“ beginnende Nummer zeigt an, dass es sich um eine sogenannte Lohnpressung handelt, die von Telefunken im Auftrag einer anderen Firma hergestellt wurde. Besonders verbreitet waren Werbeschallplatten zwischen den 1950ern und 1970ern, als sie per Wurfsendung, als Warenzugabe oder auch als Zeitschriftenbeilage an den Mann bzw. die Frau gebracht wurden. Sie waren – anders als die C&A-Platte – häufig aus dünnen, unzerbrechlichen Kunststofffolien.

Wie die C&A-Platte in Umlauf kam, lässt sich aus der Aufnahme und den dazugehörigen Informationen nicht erschließen. Das farbig gestaltete Etikett mit dem wiedererkennbaren Schriftzug von C&A lässt vermuten, dass sie als Werbegeschenk und nicht für den Rundfunk gedacht war – zumal das NS-Regime, das in Deutschland seit 1933 an der Macht war, Radiowerbung untersagte. Führt man sich diesen Entstehungszeitraum vor Augen, wird die Heiterkeit, die die Aufnahme vermittelt, konterkariert: Die Telefunken-Manager jüdischer Herkunft waren mit der Machtübernahme entlassen worden und das NS-Regime hatte durch die Nürnberger Gesetze 1935 seinen Antisemitismus juristisch institutionalisiert.

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Mai 2022

Der österreichische Bürgerkrieg 1934 im Radio

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Obwohl ich dieses Tondokument schon oft angehört habe, beschäftigt es mich noch immer: ein direkter sinnlicher Eindruck von den „Februarkämpfen“ 1934, vom Bürgerkrieg in Österreich! Bundeskanzler Dollfuß, seit einem Jahr ohne Parlament regierend, spricht im Radio und fordert die Sozialdemokratie zur Kapitulation auf.

Rainer Hubert kennt die Archibestände aus der Zeit, als er – vor seiner Pensionierung – Mitarbeiter bzw. Leiter der Österreichischen Mediathek gewesen ist.

Eine Tonaufnahme, die aus verschiedenen Gründen „unter die Haut“ geht. Am Höhepunkt des Bürgerkrieges, Mittwoch, 14. Februar, um elf Uhr abends, spricht Bundeskanzler Dollfuß im Radio. Im ganzen Land wird seit dem Vortag gekämpft.

Im ersten Teil der Erklärung stellt Dollfuß Ausbruch und Fortgang des Bürgerkrieges als sozialdemokratischen Aufstand, ausgehend von Linz, dar, ohne allerdings Umstände und Vorgeschichte – vor allem das Ende der parlamentarischen Demokratie ab März 1933 – zu erwähnen.

Er berichtet, dass das Standrecht bereits zweimal angewendet worden sei und fordert – im Clip 2 – die aus seiner Sicht aufständischen Sozialdemokraten zur Kapitulation auf: Morgen, Donnerstag, von 7 Uhr früh bis Mittag, würden diejenigen Pardon erhalten, die sich stellten.

Diese hochemotionale Erklärung inmitten der Ereignisse ist keine Aufnahme der RAVAG, der Rundfunkanstalt, selbst, sondern wurde offenbar von einem privaten Radiohörer mitgeschnitten. Man hört daher das Einstreuen anderer Sender, deren Musikprogramm manche Passagen der Ansprache makaber begleitet.

Nicht nur die Entstehung der Aufnahme ist unklar – wer hat sie durchgeführt, auf Wachsplatte, mittels einer Selbstschnittfolie? –, sondern auch der weitere Weg ist nicht mehr zu rekonstruieren. Sie ist Teil eines Tonbandbestandes, der als „Sammlung Gustav“ unter unklaren Umständen bald nach Gründung der Mediathek (1960) – damals noch Österreichische Phonothek – übernommen wurde. Unbekannt ist daher, wer die Übertragung vom Originalträger auf Tonband vorgenommen hat – und wann.

Interessant und nicht untypisch auch, dass diese Aufnahme, die nur in der Mediathek überliefert wurde, mittlerweile – nach ihrer Digitalisierung - als Digitalisat den Weg in Radiosendungen und ins Internet gefunden hat – nicht immer in abgesprochener Weise. Das ist insofern unbedenklich, als weite Verbreitung wichtiger Dokumente jedenfalls zu begrüßen ist, vor allem, wenn dies in einem erklärenden Kontext erfolgt. Auf lange Sicht ist dabei freilich ein oft übersehener Umstand äußerst wichtig: dass jemand die weitere Überlieferung solcher Dokumente garantieren muss. Das – und Hilfestellung für die notwendige Quellenkritik  bei solchen Dokumenten – ist die Aufgabe von Archiven wie der Österreichischen Mediathek!

00:07:19 [00:00:00 bis 00:03:30]
Engelbert Dollfuß - Rundfunkansprache zum Bürgerkrieg des Februar 1934

Clip 1 (erster Teil der Ansprache)

00:07:19 [00:03:35 bis 00:07:20]
Engelbert Dollfuß - Rundfunkansprache zum Bürgerkrieg des Februar 1934

Clip 2 (zweiter Teil der Ansprache)

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April 2022

Als die Briefe sprechen lernten

Ein Geburtstagsgruß zum 65. Geburtstag des Vaters, aufgenommen auf Wachswalze vor über 120 Jahren ist mein Archivist‘s Choice. Es ist eine der ältesten erhaltenen Privataufnahmen und wird in der Österreichischen Mediathek – nur durch einen Zufall – als Kopie auf Tonband aufbewahrt.

Eva Hallama leitet das Forschungsprojekt SONIME an der Österreichischen Mediathek, in dem analoge Hör- und Sprechbriefe von der Wachswalze und dem Tondraht über die Direktschnittplatte bis zum Tonband und der Kompaktkassette gesammelt und beforscht werden.

Tatsächlich entscheiden Zufälle nicht selten mit, ob historische Quellen der Nachwelt überliefert werden oder nicht. Aber private Quellen, noch dazu von unbekannten Personen, wurden lange Zeit ganz unabhängig von ihrer Überlieferungsgeschichte als nicht bewahrenswert erachtet und sind daher zum Großteil unwiederbringlich verloren. Umso bemerkenswerter ist diese Aufnahme eines historischen Hörbriefs vom 9. Jänner 1900, den der Phonographen-Sammler Bruno Fritscher in einer Radiosendung über „Phonographen, Parlographen und andere Sprechmaschinen“ im Jahr 1986 abspielte. Die Radiosendung wurde von der Phonothek, der Vorläuferin der Österreichischen Mediathek, auf Tonband aufgenommen und archiviert. So ist dieser frühe Brief zumindest in kopierter Form erhalten.

Wir hören Söhne, die ihrem Vater zum 65. Geburtstag gratulieren und ihm ein Ständchen singen. Die Aufnahme zeugt von den Anfängen einer Kulturtechnik, die sich seit über 120 Jahren weiterentwickelt. Ein Massenmedium wie der Tonband-, der Kassettenbrief oder die Sprachaufnahme via Handy-App war die Wachswalze freilich nicht. In bürgerlichen Schichten aber war das Aufsprechen der eigenen Stimme und das Bewahren akustischer Erinnerungen sehr beliebt.

Ein Phonograph schrieb dabei das akustische Signal in die Wachsschicht der Walze ein und war gleichzeitig Wiedergabegerät. Da die Tonspur bei jedem Abspielvorgang durch die Abspielnadel an Qualität verliert, ist das Anhören von historischen Wachswalzen heute nur mehr in Ausnahmefällen möglich. Dieser Geburtstagsgruß ist hingegen erstaunlich gut erhalten. Vermutlich wurde er vom Geburtstagskind, dem Vater der Sprechenden, nicht allzu häufig angehört. Ob er die Liebe der Söhne verschmähte oder das Objekt besonders ehrte, vermag die Tonspur nicht zu erzählen. Bruno Fritscher spielte die Walze, die er wie ein „besonderes Zuckerl und Heiligtum“ hütete, jedenfalls nur sehr, sehr selten.

Weitere Informationen zum Projekt SONIME, das in Kooperation mit dem Phonogrammarchiv mit Co-Projektleiterin Katrin Abromeit durchgeführt wird: https://www.mediathek.at/sonime

00:40:28 [00:34:13 bis 00:35:38]
Die Donauwelle - Phonographen, Parlographen und andere Sprechmaschinen

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März 2022

Eine Burgenländerin in Accra oder eine Ghanaerin in Riedlingsdorf

Dieses Interview ist mein Archivist’s Choice, weil Rosemary Orthner auf herzerwärmende Weise ihre Familiengeschichte zwischen Westafrika und Österreich erzählt. Zudem ist es ein aufnahmetechnisches Zeitdokument des Jahres 2021, denn es wurde online geführt.

Tina Plasil-Laschober liebt Geschichten, in Büchern, im Theater und im richtigen Leben, und darf sich seit über zwölf Jahren in der Oral History-Sammlung MenschenLeben mit Erzählungen und Erinnerungen beschäftigen.

Die Corona-Pandemie ist hart – auch für Oral Historians, die ihren Interviewpartner_innen üblicherweise persönlich begegnen. Der Salzburger Historiker Albert Lichtblau machte aus der Not eine Tugend und führte Interviews via Zoom durch. Der Vorteil: Man kann bequem von zu Hause aus mit Menschen überall auf der Welt sprechen. Der Nachteil: Die Aufnahme klingt metallisch und verzerrt, was sonst nicht den technischen Anforderungen der Sammlung MenschenLeben entspricht.

So verdanken wir der Corona-Pandemie das fast vierstündige Interview mit Rosemary Orthner. Sie lebt in Ghana, ist ehemalige Miss Universe Austria, Architektin und Österreichische Honorarkonsulin in Accra. Sie wurde 1972 in Kumasi geboren, ihre Mutter war Ghanaerin, ihr Vater Burgenländer und Bauunternehmer – blond, mit Bierbauch, wie sie sagt.

Rosemary Orthner ging zunächst auf eine lokale Schule. Dort galt sie als weiß und wurde bevorzugt. Später kam sie auf die Schweizer Schule in Accra und als sie 15 Jahre alt war, zog sie mit Schwester, Bruder und Mutter nach Riedlingsdorf im Burgenland. Sie erinnert sich an eine grobe Reduktion ihres Lebensstandards.

01:39:17 [00:31:28]
Oral History Interview mit Rosemary Orthner (Zoom-Interview), 1. Teil

Rosemary Orthner beschreibt, wie ihr Vater auf seine Arbeiter einging, sie mit Wettbewerben und Spielen dazu brachte, pünktlich und genau zu arbeiten. Diese Ideen konnte sie später nutzen, als sie selbst als Architektin auf Baustellen tätig war. Rosemary Orthner erzählt, wie sie ihren Mann beim Studium in Graz kennenlernte, und wie sie mit Mann und zwei Kindern, aber ohne Geld nach Ghana zurückkehrte. Sie spricht über kulturelle Unterschiede, und dass sie da wie dort als Ausländerin gesehen wird.

zum Weiterhören

02:03:51
Oral History Interview mit Rosemary Orthner (Zoom-Interview), 2. Teil

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Februar 2022

Als Arik Brauer noch Erich Brauer war

Ein Interview am Beginn zweier Karrieren, eines gesellschaftlichen Umbruches und als Paradebeispiel für einen Radiobeitrag des United States Information Services. Für mich macht die junge Stimme Arik Brauers diese Aufnahme besonders.

Anton Hubauer ist ein „Allrounder“ im Team der Mediathek. Vom Publikumsbetrieb, der Katalogisierung, Digitalisierung bis zu den Webausstellungen reicht sein Aufgabenbereich.

Herbert Feuerstein, der aus Zell am See stammende USIS-Reporter, interviewte 1967 einen jungen Maler aus Wien, keinen anderen als Arik Brauer. Doch 1967 lief die Ausstellung in New York, bei deren Vernissage das Interview entstand, noch unter dem Namen Erich Brauer. Gerade begann der Sommer, der als „Summer of Love“ in die Geschichte eingehen sollte und ohne den es 1968 als gesellschaftlichen Wendepunkt so nicht gegeben hätte. Das ist in der Schilderung der Atmosphäre der New Yorker Kunstgalerie und beim Interview zu spüren, ein wenig Aufbruchsstimmung ist zu spüren.

Das United „States Information Service“ wurde 1953 für Public-Information gegründet, also Propaganda im Kalten Krieg. Die USIS produzierte u. a. gratis Radiobeiträge für befreundete Länder, auch Österreich. 2004 kam der Bestand in Kooperation mit der Wienbibliothek an die Österreichische Mediathek und zählt jetzt zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Herbert Feuerstein und Arik Brauer standen im Juni 1967 am Beginn ihrer Karrieren. Herbert Feuerstein sollte in Deutschland ein bekannter Journalist, Kabarettist, Schauspieler und Entertainer werden. Arik Brauer, neben Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Maitre Leherb und Wolfgang Hutter einer der Hauptvertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, änderte seine Passion nicht mehr, aber ab 1971 kam mit seinen Austropop-Erfolgen eine zweite Karriere dazu.

Der „Summer of Love“ ist Geschichte, ebenso der Kalte Krieg, der dieses Interview entstehen ließ. Herbert Feuerstein verstarb im Jahr 2020 und Arik Brauer legte 2021 den Pinsel endgültig nieder.

00:05:31
Ausstellung des Wiener Malers Erich (Arik) Brauer in New York

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Jänner 2022

Ouvertüre aus „Coriolan“

Mein Archivist’s Choice ist Ludwig van Beethoven – Ouvertüre aus „Coriolan“, dirigiert von Erich Kleiber als Ausgangspunkt einer Entdeckungsreise. Anhand dieser einen Einspielung kann man tief eintauchen in die (Kultur-)Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Gabriele Fröschl ist Leiterin der Österreichischen Mediathek und findet, dass es sich lohnt, genauer hinzusehen und hinzuhören um die Geschichte(n) hinter der Aufnahme aufzuspüren.

Am Beginn steht die Schellackplatte. Diese zerbrechlichen Platten – von denen die Österreichische Mediathek zehntausende beherbergt – sind ein faszinierendes Medium. Durch sie war es ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts größeren Kreisen erstmals möglich, zuhause Musik zu hören – ohne ein Instrument beherrschen zu müssen. Das Wohnzimmer wurde zum Konzertsaal und von Beginn an nutzten die bekanntesten Musiker_innen ihrer Zeit die Möglichkeit, ihre Interpretationen auf diese Weise zu verbreiten und zu konservieren – wie hier der Dirigent Erich Kleiber. Die Biografien der Künstler_innen der Schellackära sind oft ein Spiegelbild der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Erich Kleiber, 1890 in Wien geboren und ab 1923 an der Staatsoper in Berlin tätig, war nicht nur für seine Beethoven- und Wagnerinterpretationen, die auch auf zahlreichen Platteneinspielungen festgehalten wurden, bekannt, sondern auch für seinen Einsatz für moderne Musik. Als deren Verfechter und strikter Gegner des nationalsozialistischen Regimes wurde Kleiber 1935 ins Exil gezwungen. 1950 kehrte er nach Europa zurück, konnte aber nicht mehr an seine einstigen Erfolge anschließen. Die Kulturpolitik der Nachkriegszeit zeigte oftmals wenig Bemühen vertriebene Künstler_innen willkommen zu heißen. Erich Kleiber starb 1956 in Zürich.

Mit dem eingespielten Werk, Beethovens 1807 entstandener Coriolan-Ouvertüre, gelangen wir an einen Aufführungsort im Wien des frühen 19. Jahrhunderts. Am 12. April 1812 erklang die Coriolan-Ouvertüre im sogenannten Streicherhof. Beethoven war mit dem Ehepaar Streicher, das in Wien in der Ungargasse 46 eine der bekanntesten Klaviermanufakturen Europas betrieb, befreundet. Mit regelmäßigen Konzerten im Streicherhof – der heute einem schmucklosen Neubau gewichen ist – förderte das Ehepaar das Wiener Musikleben seiner Zeit.

Und mit der Person des Gnaeus Marcius Coriolanus würden wir dann im Rom des 5. Jahrhunderts vor Christus landen…

00:04:51
Coriolanus-Ouvertüre – 2. Teil

Coriolan-Ouvertüre (zum gleichnamigen Drama von Heinrich Joseph von Collin). Berliner Philharmoniker, Erich Kleiber.

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Dezember 2021

Das österreichische „Wunderteam“ schlägt Ungarn 8 : 2

Ein rares Tondokument, das vor allem die Herzen der Fans des historischen österreichischen Fußballs höherschlagen lässt, gehört auch zu meinen Favoriten. Es lässt einerseits die Dramatik des Spiels und die Begeisterung für das sogenannte „Wunderteam“ erahnen, gibt aber auch einen kleinen Einblick in die Art des Kommentierens.

Robert Pfundner sieht es als Herzensangelegenheit, durch wissenschaftliche Aufarbeitung und als Kurator von Online-Ausstellungen historische AV-Dokumente der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Da es beim 2:2 in Budapest gegen Ungarn im Herbst 1931 zu Zwischenfällen gekommen war, wurde das 70. Fußballländerspiel zwischen Österreich und Ungarn, als „Versöhnungsspiel“ bezeichnet.

Es herrschte herrliches Frühlingswetter an diesem Aprilsonntag in Wien. Das Stadion auf der Hohen Warte war mit etwa 60.000 ausgegebenen Eintrittskarten ausverkauft. Um 17 Uhr erfolgte der Anpfiff für das Länderspiel Österreich–Ungarn, das nach dem Unentschieden im Herbst 1931 in Budapest mit Spannung erwartet wurde. Zudem hatte es seit 1928 keinen Sieg gegen Ungarn gegeben. Für Österreich spielte das „Wunderteam“, wie die Nationalmannschaft nach den Siegen ab Mai 1931 gegen Schottland, Deutschland, die Schweiz und Italien genannt wurde. Die Spiele dieses Teams führten zu einer immensen Beliebtheit des Fußballsports in Österreich, die Zuschauerzahlen schnellten in die Höhe.

Zu hören ist ein Ausschnitt aus der zweiten Halbzeit, die im Radio live übertragen und vom bekannten Radiosprecher Willy Schmieger kommentiert wurde. Die Ungarn spielten gut, trafen aber auf eine brillant agierende österreichische Mannschaft. Matthias Sindelar bot eine herausragende Leistung und war durch einen Hattrick in der ersten Hälfte am Pausenstand von 4:2 maßgeblich beteiligt. Anton Schall schaffte den Hattrick in der zweiten Halbzeit. Das Wunderteam siegte schließlich mit 8:2.

Bemerkenswert ist die Sprache des Sportreporters Willy Schmieger mit seinen Satzkonstruktionen und der lebhaften, eloquenten Schilderung im Radio, aber auch der Umstand, dass es schon damals einen Co-Kommentator gab. Er half, die Geschehnisse zu überblicken und ermahnte in diesem Fall auch, den Sieg nicht vorwegzunehmen. Solche Radioreportagen wurden so gut wie nie aufgezeichnet, umso wertvoller ist diese Rarität. Die Aufnahmemethode des Plattenmitschnitts, pro Seite begrenzt auf etwa 4 bis 5 Minuten, war sehr eingeschränkt, technisch aufwendig und heikel. Das hier gehörte Fußballspiel ist also eines der wenigen erhaltenen frühen Tondokumente des österreichischen Sports.

00:04:18
Das österreichische "Wunderteam" schlägt Ungarn 8 : 2

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November 2021

„Palmyra um 8 Uhr früh..."

Wenn in archivierte Alltagsaufnahmen neue Bedeutungsebenen eingeschrieben werden. Über die dynamische Betrachtungsweise von historischen Medienquellen und das Vergängliche im Archiv.

Johannes Kapeller vermittelt Besucher_innen Archivquellen, vertritt die Leitung der Österreichischen Mediathek und kommuniziert die Archivarbeit nach außen.

Ein Privatvideo aus dem Onlinebestand der Österreichischen Mediathek ist mein Archivist’s Choice, weil es sehr gut zeigt, dass bereits archivierte Aufnahmen einem dynamischen Veränderungsprozess unterworfen sind und ständig neu befragt und gelesen werden können.

Gezeigt wird ein Ausschnitt aus einem Reisevideo eines Wiener Touristen aus dem Jahr 1999. Zu sehen ist ein Videorundblick über die antike Ruinenstadt Palmyra, zu hören sind sowohl der „Livekommentar“ des Filmenden und diverse Hintergrundgeräusche als auch Auszüge aus der deutschsprachigen Touristenführung. Online verfügbar ist ein 4-minüger Ausschnitt aus einer gesamt 4 Stunden dauernden VHS-Aufnahme mit verschiedenen Reisevideos.

Die Aufnahme liefert kulturhistorische Einblicke in die touristische Praxis von Gruppenreisen am Ende des 20. Jahrhunderts und in den individuellen filmischen Zugang von Herrn Böhm, des Herstellers der Aufnahme.
Besondere Bedeutung erhält sie auch dadurch, dass die im Video dokumentierte Anlage im Zuge des Bürgerkrieges in Syrien im Jahr 2015 zerstört wurde und große Teile heute nicht mehr existieren. Zudem finden derartige Gruppenreisen derzeit coronabedingt nicht (mehr) statt, wodurch die Aufnahme eine weitere ‚historische‘ Bedeutungsebene erhält.

Alltagsaufnahmen wie diese können –  bei genauerem Blick –  als vielschichtige Dokumente an der Schnittstelle zwischen öffentlich und privat gelesen werden, in die nicht nur historische, sondern auch erst nach der Aufnahme geschehene Ereignisse „eingeschrieben“ werden.

Die Videoaufnahme des zerstörten Palmyra verstärkt möglicherweise die Trauer um den Verlust dieses kulturellen Zeugnisses, indem sie die Abwesenheit des früher Vorhandenen noch mehr ins Bewusstsein rückt. Auf längere Sicht bieten archivarisch überlieferte Medienquellen und das Wissen um das, was einmal war und vielleicht nicht mehr ist, eine dauerhafte Möglichkeit für neue Interpretationen und sind damit eine große Bereicherung für unsere Gegenwart.

Das Video ist Teil einer Sammlung, die im Zuge des Forschungsprojektes „Wiener Video Rekorder“ von der Österreichischen Mediathek archiviert wurde. Zusatzmaterial über den Inhalt der Sammlung wird in der Mediathek ebenso digital gesichert, wie ein Audiointerview mit dem Übergeber und Videoproduzenten, in dem er über seine Aufnahmetätigkeit spricht.

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Oktober 2021

Ein Obstdörrgerät auf Abwegen?

Über die Möglichkeiten Archivgut zu retten anhand einer Aufnahme der Salzburger Festspiele. Wie mit einfachen Mitteln die audiovisuellen Inhalte von Datenträgern bewahrt werden und warum gerade ein Haushaltsgerät zu meinem persönlichen Archivhighlight wurde.

Stefan Kaltseis versucht durch seine Digitalisierungsarbeit in der Österreichischen Mediathek, verlorengeglaubte Schätze wieder zu Gehör zu bringen.

In der Österreichischen Mediathek gibt es ein „Dörrkammerl“.

„Soll das ein Witz sein?“, wurde ich gefragt. „Für Äpfel und Birnen?“

Aber die kann man doch nicht verwechseln, oder etwa doch?

Öffnet man die Tür zu diesem Raum, dringt einem – bei äußerst warmen Temperaturen – sogleich der Geruch von erhitztem Kunststoff in die Nase. Nicht penetrant, dennoch wahrnehmbar. Es riecht nach alten Dingen. Dann der Blick auf Obstdörrgeräte, fünf an der Zahl. Sie surren leise vor sich hin, auf drei Ebenen pro Gerät liegen - Äpfel und Birnen? – übereinander.

Eine nähere Betrachtung, das Heben des Kunststoffdeckels macht den Inhalt sichtbar: Magnettonbänder, die durch die auf 60 Grad erhitzte, von unten aufsteigende Luft für vier Stunden vor sich hin „dörren“. Aber keine Sorge, sie werden dadurch nicht zerstört, im Gegenteil, sie tun danach wieder das, was ihnen aufgrund eines chemischen Prozesses vorher nicht mehr möglich war: Sie lassen sich wieder abspielen.

Sticky Shed Syndrome heißt dieses Phänomen in der Sprache von Medienarchivar_innen. Wenn sich nämlich das Bindemittel zwischen Trägerschicht und dem magnetisierten Teil eines Tonbandes auflöst, kann das Band nicht ohne erheblichen Schaden an Aufnahme und Abspielgerät wiedergegeben werden.

Eine Aufnahme aus dem Archiv der Salzburger Festspiele war erst kürzlich davon betroffen. Wir dörrten das Band vor der Digitalisierung. Nun kann man sich Mozarts Nozze wieder anhören, digital. Der Mitschnitt einer Aufnahme aus dem Festspielsommer 1937. Bruno Walter dirigierte die Wiener Philharmoniker, ehe er bald darauf, von den Nationalsozialisten vertrieben, in die Vereinigten Staaten emigrieren musste.

Äpfel und Birnen kann man verwechseln. Mit Magnettonbändern. In Obstdörrgeräten, wenn diese in einem audiovisuellen Archiv der Bestandssicherung dienen.

00:28:20

Le nozze di Figaro - 1. Teil (1937)

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September 2021

H. C. Artmann – Manifest bevor Österreich bewaffnet wurde

H. C. Artmann (1921–2000) liest im März 1984 „etwas ganz Historisches“, wie er selbst sagt: sein „Manifest“, mit dem er fast dreißig Jahre zuvor und damit zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die Wiedereinführung eines Bundesheeres in Österreich heftig protestiert hat – literarisch und pointiert. An der Aufnahme erscheint mir auch die Intermedialität besonders spannend.

Peter Ploteny vertieft sich unter anderem in die rechtlichen Möglichkeiten der Verwendung von audiovisuellen Medien.

00:03:26

H. C. Artmann liest: Manifest bevor Österreich bewaffnet wurde (1984)

Bekannt für seinen eindrucksvollen Vortragsstil und zur Freude des Publikums erinnert sich der Autor außerdem launisch an die Begleitumstände einer Protestveranstaltung, die nur wenige Tage nach Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags im Mai 1955 stattfand. Mit sechs Gleichgesinnten spazierte er „mit Transparenten bewaffnet“ durch die Wiener Innenstadt zum Stephansdom, wo vier von ihnen vorübergehend von der Polizei festgenommen wurden. Artmann zitiert dazu auch den nebenstehenden Artikel aus der Wiener Zeitung, an dessen Diktion die Einstellung mancher Medien zur damaligen künstlerischen Avantgarde erkennbar wird.

Den Rahmen der Lesung bildete die Literaturveranstaltung "Frieden schreiben – Frieden tun" im Wiener Künstlerhaus, die vom Kunstverein Wien gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur veranstaltet wurde. Erhalten hat sich die unverkennbare Stimme von H.C. Artmann, weil die Österreichische Mediathek – damals Phonothek – die Lesung auf Tonband aufnahm. Sie ist mittlerweile gemeinsam mit tausenden Audio-Eigenaufnahmen Teil des nationalen österreichischen Dokumentenerberegisters „Memory of Austria“ der UNESCO.

zum Weiterhören: Aufnahmen mit H. C. Artmann – darunter auch die gesamte Autorenlesung vom 6. März 1984

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August 2021

Bäuerliches Brotbacken in Zell am Moos

In Zeiten von Pandemie und Lockdown hat das Thema des Films „Brotbacken“ überraschend an Aktualität gewonnen. Viele entdeckten das Brotbacken an ihren E-Herden neu. Doch wie sah der Alltag des Brotbackens in früheren Zeiten aus – ohne E-Herd oder Küchenmaschine?

Marion Jaks, Medienarchivarin an der Österreichischen Mediathek, beschäftigt sich mit den Tiefen der Videoarchivierung und kann so ihrer Freude an Problemlösungen und technischen Herausforderungen nachgehen.

Die Sammlung des Österreichischen Bundesinstituts für den wissenschaftlichen Film (ÖWF) ist eine, die mir besonders ans Herz gewachsen ist. Oft entdecke ich Filme aus diesem Bestand immer wieder neu – in unterschiedlichen Arbeitskontexten tauchen sie nach Jahren wie alte Bekannte wieder auf. So auch dieser Film.

Ich habe ihn ausgewählt, weil er ein ‚leiser‘ Film ist, bei dem es nicht um große wissenschaftliche Entdeckungen oder große historische Momente geht. Dieser Film dokumentiert ein Stück Alltag und ermöglicht das Eintauchen in eine fremde, vergangene Lebenswelt – in eine Zeit, in der bereits das Brotbacken an den Höfen begann, unüblich zu werden und zunehmend beim Bäcker gekauft wurde. Ein Moment, der aus Sicht der volkskundlichen Forschung genutzt werden musste, um eine Praxis für die Nachwelt festzuhalten, bevor sie verschwindet – wie auch am Begleittext deutlich wird.

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Juli 2021

Victor Gruen, Venedig und das Wiener Kaffeehaus

Ein sechzig Jahre altes Interview und trotzdem aktuell? Die Radiosendung mit Victor Gruen, dem „Vater des Einkaufszentrums“, ist mein Archivist’s Choice, weil sie beides zugleich ist. Die Aufnahme dauert zwar nur wenige Minuten, ist aber so vielschichtig, dass man bei jedem Anhören einen neuen Aspekt entdeckt.

Christina Linsboth, hört gerne Historisches, kümmert sich als Medienarchivarin um die Gegenwart und Zukunft von Vergangenem

Im Gespräch mit Victor Gruen werden städtebauliche, verkehrspolitische und sozioökonomische Aspekte thematisiert, die auch heute (wieder) diskutiert werden. Gleichzeitig ist die Aufnahme ein historisches Dokument – erkennbar etwa an der Gestaltung, der Sprachmelodie oder dem Begriff der „Hausfrau“.

00:13:45

Einkaufszentren in den USA – Interview mit Victor Gruen (1962)

Als historisches Dokument erzählt der Beitrag einen mehrfachen Kulturtransfer: Für Gruen, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste und dem man sein Wiener Idiom deutlich anhört, waren Einkaufszentren der Versuch, europäische Innenstädte in der US-amerikanischen Vorstadt zu imitieren – mit kurzen Fußwegen, mit vielfältigen Konsum-, Erholungs- und Begegnungsmöglichkeiten und mit so etwas wie einem Kaffeehaus. Gewiss hatte er dabei seine Geburtsstadt Wien im Kopf.

Die USIA transportierte mit Sendungen wie dieser mehr oder weniger unterschwellig eine Vorstellung des american way of life. Einleitend bemerkte der Sprecher etwa, dass ein Einkaufszentrum eine Stadt am Rande der Stadt sei, in der zwar niemand wohne, in der aber jeder alles einkaufen könne – alles in allem ein „höchst seltsame[s]“ Phänomen. Anfang der 1960er Jahre, also am Beginn der Massenkonsumgesellschaft, war diese heute so alltägliche Einkaufspraxis zumindest für Europäer_innen offensichtlich noch erklärungsbedürftig.

Paradoxerweise sollte das Shopping Center schon bald zum Vorbild für europäische Städte werden –  eine Entwicklung, die der 1968 nach Wien zurückgekehrte Architekt vehement ablehnte, da sie seine städtebaulichen Vorstellungen konterkarierte. Das erste Einkaufszentrum Österreichs wurde übrigens 1976 im Süden Wiens eröffnet – als sich Victor Gruen bereits mit Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Innenstädten auseinandersetzte.

zum Weiterlesen

Anette Baldauf (Hg): Victor Gruen. Shopping Town. Memoiren eines Stadtplaners (1903-1980), Wien u.a. 2014.
Victoria de Grazia: Das unwiderstehliche Imperium. Amerikas Siegeszug im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2010.
Victor Gruen im WienGeschichteWiki

zum Weiterhören

01:38:46

„Das Dorf das eine City hat“ – Stadtporträt Vösendorf (2001)