Videoaktivismus. Heinz Granzer und die Gruppe Alternativvideo

Renée Winter

Das Aufnahmematerial von Video wurde mit der Zeit wesentlich günstiger als Schmalfilm – Super‑8-Film musste nach dem Aufnehmen entwickelt werden, was teuer war und außerdem eine gewisse Zeitdauer in Anspruch nahm. Video begünstigte eine generelle Demokratisierung des Zugangs zur Anfertigung bewegter Bilder. Der Medientheoretiker Siegfried Zielinski verglich die kulturelle Bedeutung sogar mit „der massenhaften Verbreitung der Photographie im 19. Jahrhundert, welche die Portraitmalerei zu guten Stücken ablöste und es auch den weniger reichen und mächtigen Bürgern ermöglichte, sich abbilden zu lassen.“ (Zielinski 1989: 234)

Alternativvideo im WUK

Die Gruppe Alternativvideo rund um den Video- und Gewerkschaftsaktivisten Heinz Granzer (eigentlich Karl Heinrich Granzer, 1941–2014) besteht seit 1978. Im Februar 1979 wurde der „Verein zur Schaffung offener Kultur- und Werkstättenhäuser WUK“ gegründet und traf sich wöchentlich im Amerlinghaus, an diesen Treffen nahmen auch Vertreter_innen der Gruppe teil. Mit dem Einzug ins WUK 1981 bezog auch die Gruppe Alternativvideo dort Räumlichkeiten. 1995 wurde der Verein „Alternativvideo. Verein zur Förderung der aktiven Tätigkeit mit dem Medium Video“ gegründet. Obwohl an der Gruppe durchwegs mehrere Personen beteiligt waren, kam Heinz Granzer von Beginn an eine zentrale Funktion zu.

Granzer verstarb im März 2014 und hinterließ tausende Videokassetten, tausende DVDs, dutzende Festplatten und ein analoges Ordnungssystem seines privaten Videoarchivs, das von der zurückbleibenden Gruppe entziffert und in Form gebracht wurde. Ein großer Teil seines Videoarchivs (die selbstgedrehten Aufnahmen) wurde von der Österreichischen Mediathek übernommen.

Ziele und Praxis der Gruppe

Nach den Selbstbeschreibungen der Gruppe sowie der Vereinsstatuten sollten die Tätigkeiten umfassen:

  1. Veranstaltungen, Hausgeschehen und Demonstrationen zu dokumentieren,
  2. diese Aufnahmen vorzuführen und
  3. zu archivieren sowie
  4. aus diesen Aufnahmen Filme und Dokumentationen zu gestalten.
  5. Darüberhinaus anderen Gruppen Know-how und Technik zur Verfügung zu stellen, damit diese eigene Videoprojekte durchführen können.
  6. Weiteres audiovisuelles Material zu sammeln, zu erfassen und zur Verfügung zu stellen.

Einige der mit dem Medium Video verbundenen Versprechungen wurden in der Mitgliederzeitschrift WUK-Info Nr. 14 vom Jänner 1982 (S. 11) formuliert. Unter der Überschrift „VIDEO: was könnte Video im Rahmen eines selbstverwalteten Werkstätten- und Kulturhauses leisten?“ werden verschiedene Einschätzungen des Mediums im Kontext des soeben bezogenen WUK gegeben.

So sei „der effektive Einsatz von Video für jedermann erlernbar und (kurze Einweisung voraus gesetzt) für zahlreiche Zwecke sinnvoll einsetzbar. Der Vorteil gegenüber Druckwerken liegt in der Konservierbarkeit von dynamischen Vorgängen sowohl hörbarer als auch sichtbarer Natur. Das Medium Video wird daher naturgemäß häufig als Dokumentationsmittel eingesetzt.“

„Video sollte im WUK nicht über eine Gruppe, sondern durch eine Gruppe passieren: nicht irgendwelche Vidioten filmen irgendeine Gruppe, sondern die Gruppe selbst konzipiert die Einsatzmöglichkeiten des Mediums. Das Heißt [sic], die Mitglieder der Gruppe machen Filme, führen sie vor und diskutieren sie mit dem Publikum. Vom ersten Konzept bis zur letzten Vorführung wäre also die Gruppe mit dem Produkt, mit dem Band befasst. Video bietet die seltene Möglichkeit ohne Entfremdung zu produzieren.“

„Die einzelnen im Haus aktiven Gruppen könnten […] das Medium Video auch ‚als Bestandteil ihrer sozialen und politischen Aktivitäten nutzen und damit verstärkt an die Öffentlichkeit trerten [sic].‘ Besonders wichtig wäre dies für ‚Gruppen, die für ihre Themen nur sehr schwer Öffentlichkeit erlangen können oder in den etablierten Medien immer werden. Ziel dabei ist, daß die Information, die durch die Videobänder weitergegeben wird möglichst authentisch bleibt; dazu muß….so zusammengearbeitet werden, daß der gesamte Prozeß des Entstehens einer Produktion für die Mitglieder einer Gruppe durchschaubar bleibt.‘ […] Leichter und billiger als Film kann Video zwei Dinge, die Film nicht beherrscht: eingebauter Ton und Sofortwiedergabe. Video ist so einfach, daß es von jedem Volksschüler verwendet werden kann.“

Die genannten Funktionen des Mediums Video, seine Vorteile und Verwendungsmöglichkeiten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Video ist leicht zu bedienen, was prinzipiell eine Demokratisierung der Verwendung ermöglicht
  • Video „konserviert“ hörbare und sichtbare Vorgänge und eignet sich daher zur Dokumentation
  • Video erlaubt Personen und Gruppen selbstbestimmte Repräsentationen der eigenen Tätigkeiten und der eigenen Geschichte
  • Durch Video wird Öffentlichkeit abseits der „etablierten Medien“ geschaffen
  • Durch die einfachere Bedienung ist der Medienproduktionsprozess „durchschaubar“ und „authentisch“
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Aufnahmen der Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse) – Videostill

Aufnahmen der Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse) – Videostill

Videogruppen in den 1970er und 1980er Jahren

Diese Ziele und Praktiken beziehungsweise dieselben hohen und zeit- und kostenintensiven Ansprüche teilten ab Ende der 1970er Jahre etliche Videogruppen und Medienzentren in Westeuropa und den USA: Wie in einem Band zu „Alternativer Medienarbeit mit Video und Film“ 1979 über Videogruppen in Westdeutschland festgehalten wird:

„Das Selbstverständnis dieser Gruppen ist sich grundsätzlich ähnlich: aktiv mit Medien für die Bürger Produktionen machen, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der etablierten Medien Zeitung oder Rundfunk oder Fernsehen liegen, deren Berichterstattung mehr dem Aufspüren von Sensationen als der Alltäglichkeit gewidmet ist. Mit einer Schwierigkeit haben die Videogruppen im besonderen zu kämpfen: mit wenig Geld für Produktionen, Gerätekauf und ‑reparatur und Organisation der Vorführungen. Einen weit höheren Kapitalbedarf haben die Medienzentren. Hier geht das Anliegen weiter über das Produzieren von Bändern und die Vorführung hinaus. Der Zentrumsgedanke leitet sich aus der Erkenntnis ab, daß verschiedene Funktionen von Medienarbeit möglichst an einem Ort zu leisten sind:

  • Bereithalten von Informationen, wie Video-Bänder (Videothek), die an Ort und Stelle auch für Gruppen anschaubar sein sollten, Literatur- und Informationsmaterial
  • Angebot einer leistungsfähigen Video-Technik (einschließlich verschiedener Systeme zur Aufnahme, Wiedergabe, Schnitt und Überspielung), erweitertes Angebot über Video hinaus wie Film […] Foto und Druck.
  • Organisation von Vertriebsmöglichkeiten für Produktionen
  • Beratung in Fragen technischer oder medialer Themenaufbereitung
  • Reparaturmöglichkeiten“
  • (Büttner 1979: 133)

Die Konzentration dieser alternativen und linken Medienarbeit auf das neue Medium Video bezog sich auf dem Medium eingeschriebene Versprechen. Das Schlagwort „Camcorder Revolution“ (siehe zum Beispiel Harding 1997: 4 ff) sollte den weltweiten Einsatz von Video Aktivismus zur politischen Veränderung bezeichnen.

 

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Aufnahmen der Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse) – Videostill

Aufnahmen der Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse) – Videostill

Videoaktivismus

Viele Videogruppen der späten 1970er/frühen 1980er bezogen sich – explizit oder implizit – auf die von Hans Magnus Enzensberger in seinem programmatischen Text „Baukasten einer Theorie der Medien“ formulierten Überlegungen. Unter Rückgriff auf Bertolt Brechts Radiotheorie (1932) und das Diktum vom Rundfunk, der „aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln“ wäre (S. 161), formulierte Enzensberger 1970 nicht nur eine Kritik an der „Medienfeindschaft der Linken“ (S. 166) sondern auch Vorschläge zur Nutzung und Aneignung von Technologien. Dazu stellte er ein Modell eines emanzipatorischen (vs. eines repressiven) Mediengebrauchs auf. So sei emanzipatorischer Mediengebrauch gekennzeichnet durch Dezentralisierung, dadurch, dass jede Person potenziell senden und produzieren könne, durch eine Mobilisierung, und Interaktion, durch Selbstorganisation, Politisierung, kollektive Produktion und Kontrolle über die Produktionsmittel.

Für den emanzipatorischen Mediengebrauch würden sich elektronische Medien besonders eignen, denn „Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär“ (S. 167) so Enzensberger. Insbesondere Video schien sich aufgrund seiner Verbreitungsmöglichkeiten und leichten Handhabung dafür zu empfehlen.

Modell Enzensberger (Enzensberger 1970: 173)
Repressiver Mediengebrauch Emanzipatorischer Mediengebrauch
Zentral gesteuertes Programm Dezentralisierte Programme
Ein Sender, viele Empfänger Jeder Empfänger ein potentieller Sender
Immobilisierung isolierter Individuen Mobilisierung der Massen
Passive Konsumentenhaltung Interaktion der Teilnehmer, feedback
Entpolitisierungsprozeß Politischer Lernprozeß
Produktion durch Spezialisten Kollektive Produktion
Kontrolle durch Eigentümer oder Bürokraten Gesellschaftliche Kontrolle durch Selbstorganisation

Die Funktion einer „Gegenöffentlichkeit“

Die Kritik an den „etablierten Medien“ bezieht sich nicht nur auf das Produzieren und Nicht-Produzieren bestimmter Bilder, sondern auch auf das Senden beziehungsweise Nicht-Senden von Inhalten. So betont die Gruppe Alternativvideo im WUK-Kulturbericht 1984/85: „Wem gehört unsere Geschichte, wird man da wohl fragen dürfen, und so erlaubt sich WUK-Alternativ-Video nicht ganz zufällige ORF-Versäumnisse nachzutragen“. In diesem Dokumentationsanspruch drückt sich deutlich der Bezug auf eine dominante Medienöffentlichkeit und Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender aus. Video bot eine Möglichkeit einer medial wirkungsvollen Gegenstrategie – und aus heutiger Perspektive der Schaffung historischer Quellen.

Die Funktion einer Berichtigung der offiziellen Berichterstattung, beziehungsweise eine Perspektivenerweiterung war insbesondere da gegeben, wo sich die Sichtweisen der dominanten Medien und die der Aktivist_innen deutlich unterschieden. Das war zum Beispiel bei der Berichterstattung rund um die Räumung der Gassergasse der Fall.

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Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse)

Teil 1

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Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse)

Teil 2

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Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse)

Teil 3

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Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse)

Teil 4

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Demonstration gegen die Räumung der GAGA (Gassergasse)

Teil 5
Der Fokus liegt auf dem Verhalten der Polizei.

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Demonstration gegen Kriminalisierung/Polizeigewalt GAGA (Gassergasse)

Teil 6
Eine Woche nach der Demo gegen die Räumung der Gasser­gasse, bei der es zu Zu­sam­men­stößen mit der Poli­zei ge­kom­men war und bei der etliche De­mon­strant_innen ver­letzt wurden, findet er­neut eine De­mon­stra­tion statt.

Die Sammlung Granzer in der Österreichischen Mediathek

Das Material umfasst Aufnahmen von Demonstrationen, vor allem der Friedensbewegung, aber auch solche zu anderen Themen, wie gewerkschaftliche Kämpfe, feministische Demonstrationen und Umweltaktivismus. Etliche politische Diskussionsveranstaltungen und Symposien im WUK, im Amerlinghaus, im IWK und vielen weiteren Orten sind dokumentiert. Einige der von anderen Gruppen im WUK gedrehten Videos sind erhalten, so zum Beispiel Filme der Schüler_innenschule. Zur Geschichte der Hausentwicklung wurden regelmäßig Generalversammlungen des WUK sowie politische und kulturelle Veranstaltungen im Haus gefilmt. Einen weiteren größeren abgrenzbaren Bestand stellen Parteitage der KPÖ sowie Aufnahmen des Ersten Wiener Lesetheaters dar.
Deutlich wird, dass hier von Heinz Granzer und der Gruppe Alternativvideo ein Videobestand geschaffen wurde, der auf einzigartige Weise einen Einblick in die Aktivitäten, Strukturen und Geschichten eines umfangreichen Teils sozialer Bewegungen in Wien von den 1980er bis zu den 2010er Jahren gibt.

Literatur

Jochen Büttner: Alternative Medienarbeit mit VIDEO, in: Gerhard Lechenauer (Hg.): Alternative Medienarbeit mit Video und Film, Reinbek bei Hamburg 1979, 123–141.

Enzensberger, Hans Magnus, Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch 20/1970, 159–186.

Thomas Harding: The Video Activist Handbook, London 1997.

Gerda Lampalzer: Videokunst. Historischer Überblick und theoretische Zugänge, Wien 1992.

Martina Nußbaumer, Werner Michael Schwarz (Hg.): Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern (Katalog der Ausstellung im Wien Museum 2012), Wien 2012.

Christa A. Reich: Nicht-institutionalisierte Medienarbeit mit Video in Österreich. Eine Untersuchung der ästhetischen Strukturen beim Übergang von rezeptiver zu partizipativer bzw. aktiver Kultur. Ungedr. Diss., Wien 1985.

Siegfried Zielinski: Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989.

 

(Publiziert: 2017)