Neujahrsrede von Karl Renner (1946)
Von der Moskauer Deklaration bis zur „Watchlist“
Nach außen hin stellte sich das offizielle Österreich lange als „erstes Opfer“ des Nationalsozialismus dar. Nach innen wurden die Verbrechen des Regimes weithin marginalisiert – auch, um potentielle Wählerinnen und Wähler nicht vor den Kopf zu stoßen. Im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfs und der sogenannten Waldheim-Affäre 1986 setzte eine verstärkte Auseinandersetzung um die Mitverantwortung und die Gedenkkultur in Österreich ein.
In der knapp einseitigen, von den Außenministern Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion 1943 unterzeichneten Moskauer Deklaration wurde die Rolle und Verantwortung Österreichs während des Zweiten Weltkriegs festgeschrieben. Wörtlich heißt es darin, dass Österreich als das „erste freie Land (…) der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer“ gefallen sei. Diese Formulierung war ein wesentlicher Bezugspunkt für die (Außen-)Darstellung Österreichs bis weit in die Zweite Republik und bildete die Grundlage für die sogenannte Opfertheorie. Die Passage, die sich auf die Mitverantwortung Österreichs bezog, fand dahingegen kaum Eingang in die offizielle Erzählung. Sie wurde beispielsweise auf Betreiben des österreichischen Außenministers Leopold Figl aus der Präambel zum Staatsvertrag gestrichen. Das offizielle Gedenken konzentrierte sich insbesondere auf die Ehrung der gefallenen Soldaten. Zahlreiche Kriegerdenkmäler wurden errichtet oder Gefallenendenkmäler des Ersten Weltkrieg erweitert.
Die Auseinandersetzung zwischen Bundeskanzler Bruno Kreisky – selbst ein Opfer des NS-Regimes – und Simon Wiesenthal, dem Leiter des Dokumentationszentrums, ist kennzeichnend für den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit. Wiesenthal recherchierte, dass Friedrich Peter, der Bundesparteiobmann der FPÖ, einer für Massenmorde an der Zivilbevölkerung verantwortlichen Einheit des SS angehört hatte. Nach der Nationalratswahl 1975 machte er die Vorwürfe publik. Peter leugnete seine Beteiligung, Kreisky stellte sich hinter ihn und warf Wiesenthal Kollaboration mit dem NS-Regime vor, musste seine Anschuldigungen aber per Gerichtsentscheid zurückziehen.
Der öffentlich ausgetragene und Jahre dauernde Konflikt zwischen Kreisky und Wiesenthal machte auch die antisemitischen Ressentiments in weiten Teilen der Bevölkerung deutlich, die einen „Schlussstrich“ ziehen wollte – ein immer wieder verwendeter Begriff, wenn es um die Rolle Österreichs während des Nationalsozialismus ging.
Mitte der 1980er Jahre konfrontierte der Fall Reder die Österreicherinnen und Österreicher mit der nationalsozialistischen Geschichte des Landes. Walter Reder hatte als SS-Sturmbannführer im Oktober 1944 die Ermordung von bis zu 1.800 Menschen im italienischen Marzabotto verantwortet und war dafür 1951 zu lebenslanger Haft in Italien verurteilt worden. Hochrangige österreichische Politiker intervenierten für seine Begnadigung. 1984 bekundete Reder gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern des Ortes seine Reue, widerrief seine Aussage aber, als er nach seiner Freilassung wieder in Österreich eintraf. Am Flughafen Graz empfing ihn der österreichischen Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) mit Handschlag. Im In- und Ausland führte der Fall zu einer Protestwelle und der erfolglosen Forderung nach dem Rücktritt des Verteidigungsministers.
Nur wenige Monate später wurde der Bundespräsidentschaftswahlkampf zu einer intensiven Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs, über den Umgang mit dieser Vergangenheit und die Mitverantwortung des Landes, die so bisher nicht stattgefunden hatte. Sie entzündete sich am Kandidaten Kurt Waldheim, dem bedeutenden Politiker, hochrangigen Diplomaten und ehemaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er leugnete seine Mitgliedschaft beim NS-Studentenbund und bei der SA-Reiterstandarte und bestand darauf, als Nachrichtenoffizier der Wehrmacht vor Ort nichts von der Deportation der jüdischen Bevölkerung in Saloniki gewusst zu haben.
Das Beharren Waldheims, nur seine Pflicht als Soldat erfüllt zu haben, entsprach dem Selbstbild vieler seiner Generation und war symptomatisch für die (kaum erfolgte) Beschäftigung des Landes mit seiner Vergangenheit. Im Zuge der Debatte wurden zudem – auch von Kurt Waldheim selbst – antisemitische Ressentiments bedient. Österreichische Juden und Jüdinnen waren vermehrt körperlichen Angriffen und Drohungen ausgesetzt.
Als eine Konsequenz aus der Affäre setzte das US-amerikanische Justizministerium die Privatperson Kurt Waldheim auf die „Watchlist“ – eine Liste unerwünschter Personen –, was in Österreich als ein Affront wahrgenommen wurde.
1987 beauftragte die Bundesregierung eine internationale Historikerkommission: Eine Beteiligung oder Mittäterschaft des nunmehrigen Bundespräsidenten Kurt Waldheim wies diese zwar nicht nach, stellte aber fest, dass er entgegen seiner Aussagen von den Kriegsverbrechen am Balkan gewusst haben musste. Als Bundespräsident blieb er im Ausland isoliert und in Österreich umstritten. Die sogenannte Waldheim-Affäre markiert einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, da sie zu einer Abkehr von der Opferthese führte.