Erinnerungen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung in Österreich

Erinnerungen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung dokumentieren und vermitteln eindringlich die Verbrechen des NS-Regimes. Ihre dauerhafte Bewahrung für nachfolgende Generationen ist umso bedeutender, je geringer die Möglichkeiten werden, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen real zu begegnen. Die Österreichische Mediathek hat zahlreiche dieser Oral History-Interviews gesammelt und macht die technisch oft fragilen Quellen für Wissenschaftler/innen und Interessierte zugänglich.

 

Weiterleben von Zeitzeugenschaft im (digitalen) Archiv

Im Rahmen eines vom Zukunftsfonds und vom Nationalfonds unterstützten Projekts gelangten zwischen 2014 und 2018 annähernd 3.000 Stunden an Audio- und Videodokumenten auf rund 1.700 Trägern aus über 30 Initiativen ins (digitale) Archiv. Die fachgerechte Digitalisierung des audiovisuellen Materials stellt dabei die Basis für die digitale Langzeitarchivierung dar und ist damit Voraussetzung für einen dauerhaften Erhalt der Interviews, da so gut wie alle Träger eine begrenzte Lebensdauer besitzen und auch die zur Wiedergabe notwendigen Abspielgeräte in Zukunft nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehen werden.

Um Wissenschaftler/innen und Interessierten einen größtmöglichen Zugang zu gewähren, sind die Aufnahmen im Online-Katalog der Österreichischen Mediathek verzeichnet und im Publikumsbetrieb anhörbar und ansehbar. Viele Interviews sind darüber hinaus im Archivportal „Österreich am Wort" zugänglich. Sie wurden mit zusätzlichen Informationen zum Inhalt des Interviews, zur Biografie der interviewten Person oder zum Entstehungskontext der Aufnahme versehen.

Im Zuge der Waldheim-Affäre setzte Ende der 1980er Jahre eine verstärkte öffentliche und wissen­schaftliche Auseinandersetzung mit der Rolle Österreichs während des Nationalsozialismus ein. Diese vergangenheitspolitische Wende fand nicht nur auf einer symbolischen Ebene statt, sondern schuf auch neue Institutionen: 1995 wurde der Nationalfonds ins Leben gerufen, „um die besondere Verantwortung der Republik Österreich gegenüber Opfern des Nationalsozialismus zum Ausdruck zu bringen“. Sieben Jahre später wurde der Zukunftsfonds mit der „Förderung von Projekten zum Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Regimes und zur Erforschung des Unrechts (…) sowie einer zukunftsorientierten Förderung von Toleranz und Nicht-Diskriminierung“ betraut. Im Rahmen zahlreicher von den beiden Institutionen geförderter Projekte entstanden audiovisuelle Dokumente und hier insbesondere Oral History-Interviews.

Wessen Lebensgeschichten?

Die Sammlung ist entsprechend der vielfältigen Entstehungskontexte heterogen: Neben umfangreichen Interviewbeständen aus Forschungsprojekten umfasst sie auch audiovisuelles Material aus lokalgeschicht­lichen Projekten und gedenkpädagogischen Initiativen sowie Interviews aus Dokumentarfilmen.

Bewahrt werden so die Erinnerungen von Angehörigen unterschiedlicher Gruppen, die vom NS-Regime verfolgt wurden: von aus politischen Gründen Verfolgten wie Kommunist/innen und Sozialdemokrat/innen, von aus „rassischen“ Gründen Verfolgten, von Zeug/innen Jehovas, von Homosexuellen und von Personen, die auf Grund des Vorwurfs der „Rassenschande“ verfolgt wurden. Die Sammlung beinhaltet auch Interviews, in denen Betroffene sowie deren Nachkommen über ihre Erfahrungen mit Entschädigungszahlungen für NS-Opfer in Österreich berichten.

Neben der inhaltlichen Breite ist die zeitliche Spannweite der archivierten Erzählungen charakteristisch: Sie reicht von den 1980er bis in die 2010er Jahre und deckt damit die Erinnerungen mehrerer Generationen ab.

Geboren in der „Welt von Gestern“

Die frühesten Aufnahmen der Sammlung stammen aus den 1980er Jahren und damit aus einer Zeit vor dem sogenannten „Erinnerungsboom“, der Ende der 1990er Jahre anzusetzen ist. Die Interviewpartner/innen wurden häufig noch in der Habsburgermonarchie geboren und erleben die Zwischen­kriegszeit und das NS-Regime als (junge) Erwachsene. Einer der ältesten Interviewten ist der 1907 in Wien geborene Schauspieler Leon Askin, der im Gespräch mit Albert Lichtblau davon berichtet, wie er Mitgliedern der Kaiserfamilie begegnete. Von Marko Feingold, dem späteren langjährigen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, sind Interviews aus den 1980er und 1990er-Jahren erhalten. Er wurde 1913 geboren und überlebte die Konzentrationslager Ausschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald.

Wir mussten alles stehen und liegen lassen …

… berichtet der damals elfjährige Meir Leker, dessen Vater noch in der Nacht des „Anschlusses“ verhaftet und erst wieder freigelassen wurde, als er versicherte, das Burgenland zu verlassen. Meir Leker erinnert sich, dass die Familie nur wenige Dinge mitnehmen konnte. Durch die Brüder der Mutter, die sich um Einreisebewilligungen für Palästina bemühten, und durch das Geschick des Vaters gelang die Flucht über Triest. Wie die Familie Leker wurden insbesondere Juden und Jüdinnen aus „rassischen“ Gründen verfolgt.

00:23:26 [00:01:20 bis 00:03:02]
Leon Askin (1995)

Im Gespräch mit Albert Lichtblau

00:57:22
Meir Leker (2005)

Interview mit Gert Tschögl

Ganz am Anfang, da konnte ich nicht darüber sprechen …

… erzählt die 1917 in Wien geborene und in einer tschechischstämmigen Arbeiterfamilie aufgewachsene Irma Trksak. Da sie sich einer Widerstandsgruppe engagierte, die unter anderem Flugblätter herstellte und verteilte, wurde sie 1941 zusammen mit anderen Widerstandskämpfern ihrer Gruppe verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Das Gespräch mit Irma Trksak ist ein Beispiel für Interviews mit Personen, die während Nationalsozialismus aus politischen Gründen verfolgt wurden.

Zu dieser Gruppe zählt auch Karl Flanner. Im mehrtägigen Interview für einen Dokumentarfilm berichtet er von seinen Aktivitäten als kommunistischer Widerstandskämpfer während des autoritären „Ständestaats“, von seiner Verhaftung durch die Gestapo 1939 und seiner Deportation ins KZ Dachau. Später wurde Karl Flanner ins KZ Buchenwald deportiert, wo er die Befreiung im April 1945 erlebte.

Dort haben sie uns zusammengetrieben …

… erinnert sich die 1923 geborene Walpurga Horvath an die Deportation der burgenländischen Roma im Sommer 1938. Die jahrelange Internierung im Konzentrationslager überlebte sie stark unterernährt und tuberkulosekrank nur knapp. Das Interview mit Walpurga Horvath entstand im Rahmen eines Dokumentationsprojekts, das exemplarisch für das verstärkte Interesse an bis in 2000er Jahre wenig beachteten Gruppen von Verfolgten des Nationalsozialismus und damit für die Lebensgeschichten von Gehörlosen, von Roma und Sinti und von Überlebenden der NS-Euthanasie.

Alois Kaufmann, der 1934 in Graz als uneheliches Kind geborene worden war, wurde als „unwertes Leben“ eingestuft und war in der „Kinderfürsorgeanstalt“ am Spiegelgrund schweren sexuellen und körperlichen Misshandlungen ausgesetzt. Das Interview mit Alois Kaufmann ist ein Beispiel für pädagogische Projekte, im Rahmen derer Schülerinnen und Schüler in ein Gespräch Opfern nationalsozialistischer Verfolgung traten.

00:42:27
Walpurga Horvath (2006)

Interview mit Michael Teichmann und Emmerich Gärtner-Horvath

 

01:00:08
Alois Kaufmann (2004)

Interview im Rahmen des Projekts Zeit:Zeugen

Archiviert sind auch Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die auf andere Weise mit den Konsequenzen von Nationalsozialismus und Krieg konfrontiert waren. Zu ihnen zählen etwa die Kinder von (afroamerikanischen) Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen – als Folge freiwilliger Beziehungen, aber auch von Vergewaltigungen –, die meist vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt waren.

Mehrere Interviews befassen sich darüber hinaus mit den Lebensgeschichten und Einstellungen von Angehörigen deutschsprachiger Minderheiten aus der Tschechoslowakei und aus Jugoslawien, die während des Zweiten Weltkriegs nach Österreich kamen. Unter ihnen war Primus Michelic, der in Bratislava (Pressburg) aufwuchs und 1945 mit seiner Familie vor der herannahenden sowjetischen Armee nach Niederösterreich und weiter nach Oberösterreich floh.

Vom Tonband zu „born digital“

Da die Sammlung Aufnahmen aus mehr als drei Jahrzehnten integriert, lässt sie nicht nur inhaltliche Schwerpunktsetzungen seit den 1980er Jahren nachvollziehen, sondern zeigt auch anschaulich einen technologischen Wandel: Wurden die in den 1980er und 1990er Jahren geführten Interviews überwiegend auf Tonband, Diktier- oder Kompaktkassetten aufgenommen, sind die jüngeren und jüngsten hauptsächlich als digitale Files und in Form von Videos aufgezeichnet. Ihre Einbindung in das Langzeitarchivierungssystem stellt die Österreichische Mediathek vor eine Herausforderung, da sie die archivierten Datenmengen stark anwachsen lassen.

Warum sind nicht alle Interviews online verfügbar?

Die Frage der (digitalen) Zugänglichkeit hat bei Oral History-Interviews eine rechtliche und eine ethische Komponente. Das rechtliche Einverständnis einzuholen, stellt bei Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Krieg und Verfolgung als junge Erwachsene oder Kinder erlebten und mittlerweile weit über 70 Jahre alt sind, eine große Herausforderung dar, ist aber Voraussetzung dafür, die Erinnerungen online zugänglich zu machen. Sind die Betroffenen bereits verstorben, gilt es, die Zugänglichkeit der Interviews mit den jeweiligen Rechtsnachfolgern und -nachfolgerinnen zu klären.

In ethischer Hinsicht ist zu beachten, dass die Aufzeichnungen zumeist in einer mehr oder weniger privaten Atmosphäre stattfanden und die Interviewten über häufig mit Scham behaftete Dinge sprachen, die nicht per se für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Oberste Priorität im Umgang mit den archivierten Erinnerungen hat daher der Schutz der Interviewten und ihrer Interessen. Dieser Grundhaltung folgend sah und sieht sich die Österreichische Mediathek verpflichtet, übernommenes Material eingehend inhaltlich, rechtlich und ethisch zu evaluieren und erst online zugänglich zu machen, wenn die Integrität der Interviewten sichergestellt werden kann – selbst, wenn das rechtliche Einverständnis der Interviewten und Beteiligten vorliegt.

Die online vollinhaltlich zugänglichen Aufnahmen zeigen also nur einen Bruchteil der in der Österreichischen Mediathek bewahrten Interviews. Wer sich detaillierter über die Sammlung informieren möchte, ist herzlich zu Recherchen im Online-Katalog und vor Ort eingeladen.