Die russische Armee
Bosche, Zarja chrani! – Gott schütze den Zaren!
Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges staunten Verbündete und Gegner gleichermaßen über die militärische und wirtschaftliche Machtentfaltung Russlands seit 1905. Doch war die „russische Dampfwalze“ tatsächlich so unaufhaltsam, wenn sie einmal in Bewegung gekommen war?
Der Zar war Herrscher über mehr als 160 Millionen Untertanen, die zahlenmäßig mit Abstand größte Landesbevölkerung in Europa. Alle Rohstoffe zur Kriegsführung gab es im Überfluss und das Wirtschaftswachstum vor dem Ersten Weltkrieg war rasant. Das Hauptproblem für die Entwicklung der russischen Militärmacht schien die Größe des Reiches selbst zu sein. Wie konnten die Ressourcen rasch genug erschlossen werden, wie die Armeen schnell genug an die Front gebracht werden?
Vergessen war 1914 die Niederlage gegen Japan im Jahr 1905, ebenso die Revolution desselben Jahres. Der innere Zusammenhalt schien ungefährdet. Die Tatsache, dass Russland ein Vielvölkerreich war, trat durch die massive Dominanz der größten Volksgruppe, der Russen, in den Hintergrund. Die russische Armee war durch das „Große Programm“ auf dem Weg zur dominanten Land-Streitmacht in Europa, zumindest nach den Zahlen. Das Deutsche Reich sah sich immer stärker bedroht und fast schon erdrückt, ebenso wie Österreich-Ungarn. Selbst in Frankreich und Großbritannien wurden Bedenken laut. Besonders in London verursachte der Gedanke an eine erneute russische Bedrohung Indiens, aber auch eine russische Dominanz in Persien, manch schlaflose Nacht. Der Eindruck war aber trügerisch. Russlands Wirtschaft wuchs zwar gewaltig, trotzdem war die industrielle Basis nicht soweit, die Wünsche des Militärs zu befriedigen. Maschinen mussten in großem Umfang importiert werden. Französisches Kapital strömte seit 1894 ins Land, die Fertigwaren kamen aber ebenso aus England oder Deutschland.
In der Planung der russischen Aufrüstung kam es zu Fehlentwicklungen, ging doch das Militär von einer kurzen Kriegsdauer aus – ein weitverbreiteter Irrtum. Das vorhandene Militärbudget wurde für die Anschaffung von Waffen und Munition verwendet, nicht um die Produktionskapazitäten im eigenen Land zu erweitern. Viel Geld wurde auch für Festungen ausgegeben. Praktisch die gesamte schwere Artillerie wurde als Festungsartillerie zu einer statischen Rolle verurteilt. Die Erwartungen vor dem Krieg in den Kampfwert der Festungen wurden mehr als enttäuscht.
Ein weiteres Problem für die zaristische Armee lag in der hohen Rate von Analphabeten im Land. Die Soldaten auf allen Ebenen befolgten Befehle ohne Widerspruch, dafür zeigten sie aber kaum Eigeninitiative. Auch war die Günstlingswirtschaft in der russischen Armee besonders weit verbreitet. Viele höhere Kommandanten verdankten ihren Posten mehr der Tatsache wen sie kannten und trafen, als was sie konnten und taten.
Der Ausbau der Eisenbahn war rein auf die Beschleunigung der Mobilmachung ausgelegt, aber in den Grenzgebieten zum Deutschen Reich wurde der Neubau von Linien bewusst unterlassen, denn auch ein Angreifer könnte, nach dem „Umspuren“ der Gleise, die Linien verwenden.
Die meisten russischen Handelsrouten waren im Kriegsfall entweder durch Gegner blockiert oder zu schwach, um Nachschub im großen Stil von Großbritannien, Frankreich oder den USA zu importieren.
Aus dem größten stehenden Heer in Friedenszeiten wurde mit Beginn der Mobilmachung die zahlenmäßig stärkste Armee Europas. Beinahe 3,5 Millionen Mann standen schon nach wenigen Wochen unter Waffen. Wie sich bald herausstellen sollte, war es für die russische Armee weniger ein Problem genügend Männer zu mobilisieren, als diese auch entsprechend auszubilden, auszurüsten und zu versorgen. Doch vorerst setzte sich die „russische Dampfwalze“, schneller als von vielen Politikern und Militärs erwartet, in Bewegung. Ob sie tatsächlich nicht zu stoppen wäre, das würde die Zukunft zeigen.
Chronologie der Ereignisse
Jänner – Juni 1914
1. Jänner
Die 30-jährige Urheberrechtsfrist für Wagners Oper Parsifal läuft aus: Bayreuth hat nicht mehr das Monopol auf Aufführungen dieser Oper.
1. Wiener Parsifal am 14. Jänner 1914. (mit Erik Schmedes als Parsifal, Anna von Mildeburg als Kundry und Friedrich Weidemann als Klingsor).
5. Jänner
Ankündigung des 8-Stundentages in den Ford-Werken (USA). In Österreich-Ungarn gilt zu dieser Zeit in der Industrie weitgehend der 10-Stundentag.
17. Mai
Der Wiener Associationfootball-Club sichert sich durch ein 1:1 gegen SK Rapid Wien den Fußball-Meisterschaftstitel in der Wiener 1. Klasse.
22. Mai
Der erste Propaganda-Dokumentarfilm Österreich-Ungarns wird in den Kinos aufgeführt, er trägt den Titel "Unsere Kriegsflotte".
Juni
Trotz Interventionsversuchen von russischer Seite stehen zwei, in Großbritannien gebaute, "Dreadnought"-Schachtschiffe kurz vor Fertigstellung und Übergabe an die türkische Marine. Die Regierung Asquith beharrt auf ihrem liberalen Standpunkt, sich nicht in die Geschäfte britischer Firmen einzumischen. Hintergrund ist die Furcht Russlands nicht nur die Passage durch die Meerengen (Dardanellen und Bosporus) verwehrt zu bekommen, sondern auch im Schwarzen Meer gegenüber der türkischen Marine ins Hintertreffen zu geraten.
6. Juni
Der Chemiker Adolf von Lieben (* 3. Dezember 1836) stirbt in Wien.
21. Juni
Die Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (* 9. Juni 1843) stirbt in Wien.
28. Juni
Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand (* 18. Juli 1863) und seiner Gattin Sophie Herzogin von Hohenberg (* 1. März 1868) durch Gavrilo Princip in Sarajewo.
Juli – Dezember 1914
5. bis 6. Juli
Die "Mission Hoyos" bringt den erhofften außenpolitischen "Blankoscheck" von Berlin für Wien. Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Regierung versichern Österreich-Ungarn der unbedingten und uneingeschränkten Bündnistreue, die vielzitierte "Nibelungentreue". Berlin drängt auf rasches Vorgehen gegen Serbien. Dazu fehlt aber die Einigkeit in Wien, der ungarische Ministerpräsident Tisza ist gegen ein sofortiges militräisches Vorgehen.
14. Juli
Einigung in Wien auf ein so gut wie unannehmbares Ultimatum an Belgrad. Der Diplomatie soll so genüge getan werden, die Kriegsschuld aber bei Serbien liegen. Die Übergab ist erst nach dem Staatsbesuch der französischen Regierungspitze in Russland geplant. Das Treffen soll nicht zur Abstimmung der Vorgehensweise Frankreichs und Russlands genützt werden.
20. bis 23. Juli
Französisch-russisches Regierungstreffen in Petersburg. Seit dem 17. Juli sind Russland, Frankreich, Serbien, Italien und Rumänien, teils durch Entzifferung des österreichisch-ungarischen Telegraphencodes und teils durch Indiskretionen des österreich-ungarischen Außenministers Berchtold selbst, über das geplante Ultimatum informiert.
23. Juli
Überreichung des Ultimatums an Serbien.
25. Juli
Russische Teilmobilmachung gegen Österreich-Ungarn, wofür es keinen Plan gibt. Der russische Generalstab macht auf die Unmöglichkeit der Abwandlung des Mobilmachungsplanes aufmerksam. Also eigentlich Beginn der russischen Mobilmachung. Aber auch eine Teilmobilmachung hätte die deutsche Mobilmachung ausgelöst. Serbien lehnt das Ultimatum ab und leitet Generalmobilmachung ein. Österreichisch-ungarische Teilmobilmachung für Fall "B" – Balkan.
28. Juli
Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.
30. Juli
Russland geht von der verdeckten Mobilmachung ab und verkündet nun offiziell die Generalmobilmachung.
31. Juli
Österreich-ungarische Generalmobilmachung. Entgegen den Versprechungen von Generalstabschef Conrad geht die Überleitung von Mobilmachung Fall "B" wie Balkan, auf Mobilmachung "R" wie Russland alles andere als reibungslos vor sich. Deutsches Ultimatum an Russland, seine Mobilmachung einzustellen, und Ultimatum an Frankreich, sich neutral zu erklären.
1. August
Frankreich erklärt Generalmobilmachung.
Deutschlands Generalmobilmachung und Kriegserklärung an Russland.
2. August
Deutsches Ultimatum an Belgien für Durchmarschrechte. Neutralitätserklärung Italiens, das mit Österreich-Ungarn und Deutschland im Dreibund ist. Zwei moderne Schlachtschiffe für die Türkei, die in britischen Werften gebaut wurden, werden am Tag der Übergabe an die türkischen Besatzungen von der britischen Admiralität beschlagnahmt, obwohl sie bereits bezahlt waren. Die von Istanbul erhoffte maritime Überlegenheit über Russland kommt dadurch nicht zustande.
4. August
Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich. Beginn des deutschen Angriffes auf die belgische Festung Lüttich.
6. August
Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland.
8. August 1914
Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn.
9. August
Beginn der Verschiffung der britischen Truppen über den Ärmelkanal.
10. August
Der deutsche moderne Schlachtkreuzer SMS Goeben und der Kreuzer SMS Breslau laufen in türkische Gewässer, die Dardanellen, ein. Die Schiffe werden am 16. August, mit Besatzungen, von der Türkei übernommen. Dadurch wird die Beschlagnahme zweier Schlachtschiffe für die Türkei, durch die britische Admiralität und in britischen Werften, teilweise kompensiert. Istanbul verfügt nun über das mit Abstand stärkste Kriegsschiff im Schwarzen Meer. Der unmittelbare Auslöser, warum die Türkei auf die Seite der Mittelmächte trat.
14. August
Weitere französische Offensiven im Elsass und in Lothringen.
15. August
Russische Truppen dringen in Ostpreußen ein. Der Befehlshaber der deutschen 8. Armee von Prittwitz plant den Rückzug hinter die Weichsel.
16. August
Die belgische Festung Lüttich kapituliert. Beginn der österreich-ungarischen Offenisve gegen Serbien.
17. bis 19. August
Kämpfe in Ostpreußen, Beginn der Grenzschlachten zwischen Frankreich und Deutschland. Die Offensive der k.u.k. Truppen gegen Serbien kommt nur schleppend voran.
22. August
Paul von Hindenburg übernimmt den Oberbefehl über die 8. Armee in Ostpreußen, sein Stabschef wird Erich Ludendorff. Vorstoß russischer Truppen auf österreich-ungarisches Gebiet, Beginn der Schlacht um Galizien. Bei den Grenzschlachten im Westen werden alleine an diesem Tag, nur auf französischer Seite, 27.000 Mann getötet.
23. bis 25. August
Kämpfe in Ostpreußen, Fortdauer der Grenzschlachten, erste Schlacht der britischen Truppen bei Mons, Kämpfe in Galizien und an der Balkanfront. Vorgehen der Entente gegen deutsche Kolonien.
26. August bis 2. September
Beginn der Schlacht von Tannenberg in Ostpreußen. Österreichischer Sieg bei Komarow wird durch die Niederlage bei Gnila Lipa wertlos. In der Schlacht um Lemberg müssen sich die k.u.k Truppen nach schweren Verlusten zurückziehen, Lemberg fällt am 2. September an die angreifenden Russen.
28. August
Das erste große Seegefecht des Krieges vor Helgoland endet mit einem britschen Sieg. Beginn der Belagerung der französischen Festung Maubeuge.
31. August
Auf Anordnung des Zaren wird Sankt Petersburg in Petrograd umbenannt.
2. bis 10. September
Zweite Schlacht bei Lemberg. Die Rückeroberung scheitert; die Truppen der k. u. k. Armee müssen sich bis an den Dunajec zurückziehen.
5. September bis 12. September
Schlacht an der Marne. Der deutsche Vormarsch stoppt, gefolgt von einem Rückzug auf eine besser verteidigbaren Frontverlauf.
6. bis 14. September
Serbische Offensive an der unteren Save.
8. September
Offensive der k. u. k. Armee gegen Nordwestserbien.
11. September
Serbisch-montenegrinischer Vorstoß auf Sarajewo.
12. September bis 20. September
Schlacht an der Aisne. Ende des deutschen Rückzuges nach der Marne-Schlacht, erfolglose Angriffe der französischen und britischen Truppen, die Westfront beginnt zu erstarren.
14. September bis 19. Oktober
Westfront – Wettlauf zum Meer. Gegenseitige Versuche zur Überflügelung durch Angriffe immmer weiter nördlich, bis die Kämpfe die Nordseeküste vor Ypern erreichen.
20. Oktober bis 18. November
Erste Flandernschlacht.
22. bis 26. Oktober
Schlacht bei Iwangorod (bei Warschau). Rückzug der k. u. k. Armee unter General Dankl.
Rückzug der Verbündeten auf die Linie Warthe - Krakau - Karpaten.
3. November
Selbstmord des Lyrikers Georg Trakl in Krakau. Trakl, der im September als Sanitätsoffizier an der Schlacht von Grodek teilnahm, erlitt aufgrund der schrecklichen Leiden der Verwundeten und der Grausamkeit der Schlacht einen Nervenzusammenbruch. Er wurde in ein Militärhospital in Krakau eingewiesen.
6. November
Beginn der östereichisch-ungarischen Großoffensive gegen Serbien (bis 15. Dezember)
9. November
Neuerliche Belagerung Przemysls durch russische Truppen
19. bis 25. November
Erfolgreiche Kämpfe der k. u. k. 2. Armee bei Krakau und Tschenstochau
27. November
Neuerliche Räumung von Czernowitz durch die österreich-ungarische Armee
10. Dezember
Der Laryngologe Robert Bárány erhält den Nobelpreis für Medizin
Ende Dezember
Schwere Kämpfe mit russischen Truppen in den Karpaten. Beginn der französischen Offensiven in der Champagne und im Artois.