Das Archiv – Fixieren von Emotion

Schon wenige Jahre nach der Erfindung und Etablierung von Tonaufzeichnungen wurde daran gedacht, diese in Archiven für die Nachwelt aufzubewahren.

Die neuen technischen Möglichkeiten der Ton­auf­zeichnung gestatteten gegen Ende des 19. Jahr­hunderts auch die Errich­tung von neuartigen Archiv­typen, den Schallarchiven. Man verkündete, dass es nun gelungen war, mit Technik die Zeit zu überwinden, indem man etwas so Flüchtiges wie die Stimme eines Menschen aufzeichnen, in einem Archiv aufbewahren und zukünftig immer wieder abspielen könne. Neben der Begeisterung für diesen technischen Fortschritt war es auch der Versuch der Konservierung von Emotion: Die aufgezeich­nete Stimme des Menschen als Teil seiner Persönlichkeit er­mög­lichte eine zusätzliche Dimension der Überlieferung und die Stimmen der größten Künstler_innen ihrer Zeit verspra­chen, die Emotion des Live-Erlebnisses immer wieder reproduzieren zu können.

„Weil die Platten ein Vermächtnis der Gegenwart an die ferne Zukunft sein sollen.“

Pester Lloyd, 26.1.1908, S. 8

00:02:57
Emma Calvé

Carmen

00:03:55
Enrico Caruso

Rigoletto

Am 24. Dezember 1907 fand in den Kellern der Oper im Palais Garnier in Paris ein theatralisch inszeniertes Archivprojekt statt. Ein zeitgenössischer Bericht des „Figaro“ gibt einen Einblick in die Zeremonie, bei der Schellackplatten in Urnen eingemauert wurden. „War es eine Verschwörung? Eine schwarze Messe?“, fragte sich der Journalist René Lara, als er in den Keller geführt wurde. Nein, es war ein Projekt, das maßgeblich von der Plattenindustrie initiiert wurde, genauer gesagt von Alfred Clark, dem Präsidenten der Compagnie Française du Gramophone, einer Tochtergesellschaft der 1898 gegründeten Gramophone Company. Man wollte den technischen Leistungen der Tonaufzeichnung ein Denkmal setzen, indem man Platten der berühmtesten Künstler_innen der Pariser Oper (und darüber hinaus) konservierte und diese Sammlung 1912 ergänzte – gemein­sam mit einem Abspielgerät und einer Anleitung zur Bedienung. Die Behältnisse sollten hundert Jahre später geöffnet werden und den künftigen Generationen Einblicke gewähren in den damaligen Stand der „Sprechmaschinen“ – wobei man sich bewusst war, dass man 1907 erst am Anfang der Entwicklung stand – sowie der künstlerischen Potenziale der führenden Sänger_innen der damaligen Zeit.

Eine Auswahl an Einspielungen aus dem Archiv der Österreichischen Mediathek mit Künstler_innen, die auch Eingang in das Archivierungsprojekt der Pariser Oper gefunden haben, sind auf dieser Seite abrufbar. 

00:04:09
Enrico Caruso

La Forza del Destino

00:03:08
Enrico Caruso

Aida

00:03:17
Jan Kubelik

La ronde des Lutins

00:04:01
Celestina Boninsegna

La Forza del Destino

00:03:57
Mattia Battistini

Ernani

00:04:50
Nellie Melba

Rigoletto

00:03:53
Francesco Tamagno

Otello

Schon kurze Zeit nach der Erfindung der Tonaufzeichnung wurden weltweit die ersten Archive für Tonauf­nahmen gegründet, wobei jenes in Wien, das Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das älteste der Welt ist. Der Beginn dieser Institutionen ist maßgeblich mit der Faszination für den technischen Fortschritt verbunden und dieser wird auch auf Aufnahmen, die eigens für die Archivierung hergestellt wurden, immer wieder thematisiert. Dies entsprach ganz dem Zeitgeist des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, als der technische Fortschritts­glaube noch unge­brochen war. Man konnte nun durch Technik Emotion konservieren und der Überlieferung eine weitere entscheidende Dimension hinzufügen, wie anlässlich einer Vorführung im Londoner Phonogrammarchiv 1924 zu lesen ist: „Das Phonogramm­archiv des British Museum wird in einigen Jahrhunderten einer der wert­vollsten und wichtigsten Behelfe der Wiedererweckung der Vergangenheit und überhaupt der historischen Forschung sein.“ (Neues Wiener Journal, 2. Dezember 1924, S. 7).

„Erfreulich ist es, die Fortschritte zu verfolgen, welche im Laufe der letzten Jahr­zehnte das Ineinander­greifen von Wissenschaft und Technik erzielte. So war unter anderem die Zeichensprache des Telegraphen durch die hörbare des Telephons ergänzt, und nun gelang es auch, im Phonographen gesprochene Worte bleibend festzuhalten und sie selbst nach vielen Jahren späteren Geschlechtern wieder vorzuführen. Wohl sind die Konstruktionsschwierigkeiten des letzterwähnten Apparates noch nicht vollständig überwunden, doch wird es dessen ungeachtet von Interesse sein, auch in dieser nicht ganz vollkommenen Weise die Stimmen hervorragender Persönlichkeiten aus früheren Zeiten zu vernehmen und deren Klang und Tonfall sowie die Art des Sprechens gewissermaßen als historisches Dokument aufbewahrt zu erhalten, ähnlich wie in anderem Sinne Statuen und Porträte es bisher waren. Und wenn, wie ich höre, die Akademie der Wissenschaften jetzt daran geht, sämtliche Sprachen und Dialekte unseres Vaterlandes phono­graphisch zu fixieren, so ist das eine Arbeit, die sich in der Zukunft sicherlich lohnen wird. Es hat mich sehr gefreut, auf Wunsch der Akademie der Wissenschaften meine Stimme in den Apparat hineinzusprechen und dieselbe dadurch der Sammlung einzuverleiben.“

Kaiser Franz Joseph, Bad Ischl, 2. August 1903

00:03:51
Stimmporträt von Kaiser Franz Joseph I.

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Auf dieser Seite sind ausgewählte Aufnahmen des Phonogrammarchivs der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften zu hören, sogenannte Stimmporträts, mit Hilfe derer die Stimmen bedeutender Persönlich­keiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts konserviert werden sollten.

00:01:19
Ernest von Koerber

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

„Der Phonograph bietet den Sukkurs der Wissenschaft in noch höherem Maße als die Photographie, wenigstens in ihren bisherigen Leistungen, denn er reproduziert das Wort mit seinem vollen Inhalt an Klangfarbe und seinem vollen Inhalte an Empfindung, er photographiert beide gleichsam in ihrer Materi­ellität. Der Phonograph ist also unter allen bekannten Zeugen der Stofflichkeit jener Erscheinungen, bei welchen sich der Nachweis für die Physik und die Chemie am schwierigsten gestaltet, der bedeutsamste, vollwichtigste. So spricht er durch sich selbst mächtiger zu den kommenden Geschlechtern, als alles, was wir ihnen mit seiner Hilfe überliefern vermögen. Was wir durch ihn der Zukunft sagen lassen, kann nur ein Stück Kulturgeschichte bis auf unsere Tage sein; der Phonograph verkündet mit seiner Existenz den Sieg der Naturwissenschaft für die Unendlichkeit der Zeit.“

Ernest von Koerber, 1905

00:00:28
Marie von Ebner-Eschenbach

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

00:00:16
Berta Foerster-Lauterer

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

00:00:18
Rosa Papier-Paumgartner

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

„[…] wird […] einer der wertvollsten und wichtigsten Behelfe der Wieder­er­weckung der Vergangenheit und überhaupt der histo­rischen Forschung sein. Die Stimme eines Menschen, auch wenn er kein Sänger oder Schauspieler ist, kann in vieler Hinsicht für seine Persönlichkeit ebenso charakteristisch sein wie seine Handschrift oder seine äußere Erscheinung.“

Artikel zum Londoner Phonogrammarchiv, Neues Wiener Journal, 2.12.1924, S. 7

00:01:07
Engelbert Pernerstorfer

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

00:00:48
Arthur Schnitzler

Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften