Wahlen als Wendepunkte der 80er Jahre – Der Beginn der Ära Vranitzky

Wie angekündigt trat Fred Sinowatz als Bundeskanzler nach Kurt Waldheims Wahl zum Bundespräsidenten zurück. Franz Vranitzky, bisher der Finanzminister, übernahm nun die Kanzlerschaft und wie von ihm angekündigt, kündigte er die Koalition mit der FPÖ nach Jörg Haiders Sieg über Norbert Steger als Partei-Obmann. Die Große Koalition kam zurück. 

Von Anton Hubauer

21. Der Wahlkampf im Herbst 1986

Auf dem Weg zur Großen Koalition

Eine statistische Auswertung der Wahlberichterstattung vom September 1986 bis Jänner 1987 ergibt das folgende Bild.

Wahlbeitrags-Überblick Ö1-Mittagsjournal – Nationalratswahl 1986 bis zur Regierungsbildung

Monat

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

September

52

10

10

5

18

-

6

-

3

Oktober

58

6

13

20

4

-

9

3

3

November

63

16

7

17

4

2

2

1

14

Dezember

44

11

11

10

4

-

4

-

4

Jänner

52

25

12

5

5

-

2

1

2

Summe

269

68

53

57

35

2

23

5

26

%

100

25,3

19,7

21,2

13

0,7

8,6

1,9

9,7

Die Spalte „Wahl“ beinhaltet die Gesamtanzahl der Wahlberichte. In der Spalte „Mehrfachnennung“ werden Beiträge erfasst, in denen über mehr als eine Partei oder Wahlgruppierung berichtet wird, gefolgt von Spalten für die einzelnen Parteien, sowie die Spalte „Andere“ für Kleinparteien und Kleingruppen. Die Spalte „Allg.“ erfasst Beiträge mit genereller Wahlthematik.

Doch bei einer genaueren Analyse, monats- und tageweise, unter Einbeziehung der Gesamtbeitragsanzahl pro Mittagsjournal lässt sich ein klareres Bild über die Wahlberichterstattung als solche und über ihre Gewichtung in der Gesamtberichterstattung im Ö1-Mittagsjournal zeigen. Die Spalte „Beiträge“ nennt die Gesamtbeitragszahl eines Mittagsjournals, inklusive Nachrichten und Wetterbericht. Die Spalte „Wahl“ nennt die Gesamtbeitragsanzahl zur Wahl. In der Spalte „Mehrfachnennung“ werden Beiträge erfasst, in denen über mehr als eine Partei oder Wahlgruppierung berichtet wird. Die Spalte „Einfachnennung“ unterteilt sich in die einzelnen Parteien und erfasst die Beiträge, welche nur eine Partei betreffen, wobei die Unterspalte „Andere“ Klein-Parteien und Gruppen enthält. Die Spalte „Allg.“ erfasst Beiträge mit genereller Wahlthematik. In der Tabelle für den September 1986 sind die Beiträge zur Führungsdebatte in der FPÖ erfasst, weil die Wahl Jörg Haiders zum FPÖ-Obmann den Auslöser für die Neuwahlen lieferte.

Nationalratswahl 1986 im Ö1-Mittagsjournal – September 1986

Datum

Beiträge

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

1.

12

-

-

-

-

-

-

-

-

-

2.

11

-

-

-

-

-

-

-

-

-

3.

11

-

-

-

-

-

-

-

-

-

4.

13

1

-

-

-

1

-

-

-

-

5.

13

1

-

-

-

1

-

-

-

-

6.

10

-

-

-

-

-

-

-

-

-

8.

10

-

-

-

-

-

-

-

-

-

9.

13

1

1

-

-

-

-

-

-

-

10.

12

1

-

-

-

1

-

-

-

-

11.

12

3

-

-

-

3

-

-

-

-

12.

12

2

1

-

-

1

-

-

-

-

13.

13

1

-

-

-

1

-

-

-

-

15.

15

7

4

-

-

3

-

-

-

-

16.

12

5

1

-

1

1

-

1

-

1

17.

13

1

-

-

-

1

-

-

-

-

18.

12

4

-

2

1

1

-

-

-

-

19.

12

1

-

-

-

1

-

-

-

-

20.

7

1

1

-

-

-

-

-

-

-

22.

11

6

1

2

1

-

-

1

-

1

23.

12

2

1

1

-

-

-

-

-

-

24.

12

2

-

1

-

1

-

-

-

-

25.

12

3

-

1

1

-

-

1

-

-

26.

11

2

-

1

-

1

-

-

-

-

27.

9

3

-

-

-

1

-

1

-

1

29.

11

2

-

1

-

-

-

1

-

-

30.

11

3

-

1

1

-

-

1

-

-

Summe

302

52

10

10

5

18

-

6

-

3

%

100

17,2

3,3

3,3

1,7

5,6

-

2,0

-

1,0

Dass die FPÖ in der Berichterstattung den ersten Platz einnahm, lag an der Obmann-Debatte. Die Häufung in der Berichterstattung am 15. und 16. September ist einfach durch die Auflösung der Koalition und die Ankündigung von Neuwahlen zu erklären, danach gibt es nur eine zweite Spitze am 22. des Monats, die steirischen Landtagswahlen und ihre Funktion als Barometer für die kommenden Nationalratswahlen. SPÖ und FPÖ erhielten beim medialen Interesse einen Bonus, weil sie einfach die Agierenden in Bezug auf Wechsel an der Parteispitze und Ende der Regierung waren. Bei den Grünen war das Ringen um eine tatsächliche Einigung für die kommende Nationalratswahl der Hauptgrund für die verhältnismäßig große Präsenz in der Berichterstattung im Ö1-Mittagsjournal. Die ÖVP ging im September geradezu unter, zumindest was ihre Positionierung im Mittagsjournal betraf, ebenso erging es der KPÖ und den anderen wahlwerbenden Gruppen und Grüppchen.

Nationalratswahl 1986 im Ö1-Mittagsjournal – Oktober 1986

Datum

Beiträge

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

1.

11

2

-

1

1

-

-

-

-

-

2.

12

3

2

-

-

1

-

-

-

-

3.

11

1

-

-

-

1

-

-

-

-

4.

9

3

-

1

1

1

-

-

-

-

6.

11

2

-

-

1

-

-

1

-

-

7.

12

3

-

-

1

-

-

1

1

-

9.

12

3

-

1

-

-

-

2

-

-

10.

12

2

-

-

1

-

-

1

-

-

11.

9

2

1

-

-

-

-

1

-

-

14.

12

2

-

1

1

-

-

-

-

-

15.

11

4

-

1

1

-

-

1

-

1

16.

12

4

-

1

2

-

-

-

1

-

17.

11

4

-

1

1

-

-

1

-

1

18.

8

4

-

1

2

1

-

-

-

-

20.

13

1

-

-

1

-

-

-

-

-

21.

12

4

1

-

1

-

-

-

-

-

22.

11

3

1

1

1

-

-

-

-

-

23.

13

2

-

1

1

-

-

-

-

-

24.

12

2

-

1

1

-

-

-

-

-

25.

9

1

-

-

-

-

-

-

-

1

27.

15

1

-

-

-

-

-

1

-

-

28.

12

1

-

-

1

-

-

-

-

-

29.

13

2

-

1

1

-

-

-

-

-

30.

12

3

-

1

1

-

-

-

1

-

31.

10

1

1

-

-

-

-

-

-

-

Summe

285

58

6

13

20

4

-

9

3

3

%

100

20,4

2,1

4,6

7,0

1,4

-

3,2

1,1

1,1

Mit einem Anteil von 20,4 Prozent an der Gesamt-Berichterstattung im Ö1-Mittagsjournal liegt die Nationalratswahl im Vorwahlmonat im Vergleich mit dem Vorwahlmonat 1983 praktisch gleich.

Eine genauere Analyse des Oktobers 1986 zeigt aber einige bemerkenswerte Ergebnisse auf. Was das Medieninteresse, zumindest im Ö1-Mittagsjournal, betraf, war die ÖVP an die unangefochtene erster Stelle gerückt, gefolgt von der SPÖ, aber bereits mit deutlichem Abstand, und Grünen sowie Mehrfachbeiträgen. Die Mehrfachbeiträge verdecken hier aber keine Verlagerung des Interessensschwerpunktes, betrafen sie doch zumeist die im Parlament vertretenen Parteien, oder die bei der Wahl antretenden Parteien mit realen Chancen auf einen Einzug ins Parlament, sprich SPÖ, ÖVP, FPÖ und die Grünen unter der Führung von Freda Meissner-Blau.

Warum nun die ÖVP derartig in den Mittelpunkt des Interesses rücken konnte, liegt in der klaren Absage von Bundeskanzler Vranitzky zu einer Fortsetzung der rot-blauen Koalition. Diese Absage ließ aber als einzige Regierung nach der Wahl eine Neuauflage der Großen Koalition übrig.

Die Gründe dafür lagen relativ offen auf der Hand. Die Wahrscheinlichkeit einer absoluten Mehrheit war weder für die SPÖ und schon gar nicht für die ÖVP in realistischer Reichweite. Eine Koalition aus ÖVP und FPÖ erschien wegen des erwarteten Wahlabschneidens der FPÖ schon rein rechnerisch sehr unwahrscheinlich, und die FPÖ erweckte nicht unbedingt den Eindruck eines stabilen Partners. Die Frage, ob die Grünen in den Nationalrat einziehen würden, war so offen wie 1983, abermals schienen die inneren Zerreißkräfte der noch sehr inhomogenen Grünen stärker zu sein als die Anziehungskräfte der gemeinsamen Anliegen und Ziele (Audioquelle 82: Mittagsjournal, JM‑860916: 6. Beitrag).

Doch selbst wenn die Grünen den Einzug ins Parlament schaffen sollten, wären sie von der zu erwartenden Mandatszahl zu schwach und von der inneren Struktur zu ungefestigt um als Koalitionspartner in Frage zu kommen.

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis ist das beinahe Verschwinden der FPÖ aus den Einzelbeiträgen. Als mögliche Erklärung anzunehmen, dass hier schon die Politik der Ausgrenzung gegen die FPÖ unter Jörg Haider begonnen hat, ist reine Spekulation. Eine andere mögliche Erklärung liegt vielleicht in der Ausgangslage der FPÖ für diese Nationalratswahl. Als eine Partei um die 5 Prozent, also nur knapp im Parlament, die einen mehr als gebeutelten Eindruck machte, schien sich niemand große Dinge von Jörg Haider zu erwarten. Auffällig ist diese Absenz der FPÖ im medialen Interesse aber allemal.

Ein weiteres Phänomen, das sich sowohl über den September als auch den Oktober erstreckt, ist das beinahe völlige Fehlen der sonstigen bei der Wahl antretenden Gruppen, Listen und Kleinst-Parteien, sowie das totale Fehlen der KPÖ in der Berichterstattung des Ö1-Mittagsjournales.

Nationalratswahl 1986 im Ö1-Mittagsjournal – November 1986

Datum

Beiträge

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

3.

11

2

1

-

-

-

1

-

-

-

4.

10

1

-

-

1

-

-

-

-

-

5.

11

1

1

-

-

-

-

-

-

-

6.

12

3

1

-

1

-

-

-

-

1

7.

12

3

-

1

1

-

-

-

-

1

8.

9

1

1

-

-

-

-

-

-

-

10.

12

1

-

-

-

-

-

-

1

-

11.

14

-

-

-

-

-

-

-

-

-

12.

13

2

-

-

-

1

-

-

-

1

13.

12

1

-

-

1

-

-

-

-

-

14.

13

3

-

1

1

-

-

-

-

1

15.

9

2

-

-

-

-

-

-

-

2

17.

12

1

-

-

1

-

-

-

-

-

18.

12

2

-

1

1

-

-

-

-

-

19.

13

5

-

1

-

1

1

1

-

1

20.

12

3

-

1

1

-

-

1

-

-

21.

13

3

-

-

2

1

-

-

-

-

22.

8

1

1

-

-

-

-

-

-

-

24.

12

7

1

-

2

1

-

-

-

3

25.

11

7

3

-

2

-

-

-

-

2

26.

12

3

1

1

-

-

-

-

-

1

27.

13

5

3

1

-

-

-

-

-

1

28.

11

4

2

-

2

-

-

-

-

-

29.

8

2

1

-

1

-

-

-

-

-

Summe

287

63

16

7

17

4

2

2

1

14

%

100

22

5,6

2,4

5,9

1,4

0,7

0,7

0,3

4,9

Die Berichterstattung im Wahlmonat November 1986 blieb im Umfang etwas hinter der Berichterstattung des Wahlmonats April 1983 zurück. Zwei Ereignisse trugen dazu wohl maßgeblich bei – die KSZE-Konferenz zu Monatsbeginn in Wien und der Absturz eines Draken bei der Einschulung von österreichischen Bundesheerpiloten in Schweden. Beide Ereignisse fanden ein breites Medieninteresse.

Auch drängt sich ein wenig der Eindruck auf, als ob für die Medienmacher und für viele Österreicher generell die große Koalition bereits eine beschlossene Sache war. Das würde auch die bemerkenswerte Dominanz der ÖVP bei den Einzelbeiträgen im November erklären. Als wahrscheinliche künftige Regierungspartei nach den langen Oppositionsjahren seit 1970, bekam schon der Wahlkampf der Volkspartei einen Aufmerksamkeits-Bonus.

Durch die Theorie der unvermeidlich kommenden großen Koalition lässt sich auch die Marginalisierung der Berichterstattung über FPÖ, KPÖ, die Grünen und die anderen wahlwerbenden Gruppen verstehen, denn weder FPÖ noch Grüne wurden als Koalitionspartner ernsthaft in Betracht gezogen. Gemeinsam wurde diesen Parteien und Gruppen nicht einmal die Hälfte der Beitragsanzahl der ÖVP gewidmet.

Aber auch die SPÖ scheint sehr stiefmütterlich behandelt bei ganzen sieben Einzelbeiträgen, doch hatte sich Bundeskanzler Vranitzky eigentlich schon durch die Auflösung der Regierung festgelegt.

Die relativ große Anzahl der Mehrfachbeiträge ergibt sich aus den sofort nach der Wahl einsetzenden Koalitionsgesprächen. Die 14 Beiträge in der Spalte „Allg.“ resultieren zum Teil aus dem ausländischen Medieninteresse an der Nationalratswahl, unmittelbar nach der auch vom Ausland aufmerksam verfolgten Bundespräsidentenwahl, und aus Beiträgen, die sich mit Themen wie Meinungsforschung, Hochrechnungen und der Wahlarithmetik beschäftigen.

00:04:57
Audioquelle 82: Mittagsjournal 16.09,1986 - Stellungnahmen der Grünen zu Neuwahlen

22. Die Nationalratswahl am 23. November 1986

Das Aufbrechen der politischen Landschaft

Im Ö1-Mittagsjournal des 22. November 1986 gaben die Spitzenkandidaten der drei Parlamentsparteien und die Spitzenkandidatin der Grünen ihre Schlusserklärungen ab (Audioquelle 83: Mittagsjournal, JM‑861122: 3. Beitrag). Am 23. November 1986 war es soweit, die 17. Nationalratswahl in der österreichischen Geschichte fand statt. Wahlberechtigt waren 5.461.414 Österreicher und Österreicherinnen. Die Wahlbeteiligung lag bei 88,85 Prozent, also nur knapp unter den 91,29 Prozent von der Nationalratswahl 1983. Trotzdem kann mit der Nationalratswahl 1986 der Beginn eines leichten, aber stetigen Abwärtstrends in der Wählerbeteiligung festgestellt werden. 1986 war die erste Nationalratswahl mit einer Wahlbeteiligung unter 90 Prozent in der Zweiten Republik. Dieser Trend, der für das Aufbrechen der Lagermentalität und den Abstieg der Großparteien spricht, hielt an (Zöllner, Schüssel 1995: 256). Bei den Nationalratswahlen 2006 und 2008 scheint sich die Wahlbeteiligung vorerst mit 78,48 Prozent und 78,81 Prozent bei knapp unter 80 Prozent vorerst stabilisiert zu haben (Informationen des Innenministeriums zu den NR-Wahlen seit 1919). Zur Wahl traten die folgenden Parteien und Gruppen an und erzielten die unten angeführten Resultate (Informationsborschüre des Innenministeriums zur NR-Wahl 1986).

Ergebnis der Nationalratswahl 1986

Partei

Stimmen

Prozente

Sitze

SPÖ (Sozialistische Partei Österreichs

2.092.024

43,1 (-4,5)

80 (-10)

ÖVP (Österreichische Volkspartei

2-003.663

41,3 (-1,9)

77 (-4)

FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs)

472.205

9,7 (+4,7)

18 (+6)

Grüne (Die Grüne Alternative)

234.028

4,5

8

KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs)

35.104

0,7

-

MIR (Aktionsliste "Mir reicht´s")

8.100

0,2

-

GAL (Die Grünalternativen)

6.005

0,1

-

VGÖ (Vereinte Grüne Österreichs)

1.059

0

-

Zwei weitere Auffälligkeiten in der Berichterstattung in den Ö1-Mittagsjournalen des Novembers 1986 ergeben sich bei der Betrachtung des Wahlresultates. Weder der unerwartete Wahlerfolg der FPÖ unter ihrem neuen Bundesparteiobmann Jörg Haider noch der Einzug der Grünen unter Freda Meissner-Blau ins Parlament schienen größeres Aufsehen zu erregen. Lediglich zwei Beiträge im Mittagsjournal des 24. Novembers 1986 beschäftigten sich damit: eine Wählerstromanalyse und ein Beitrag über die Nichtvorhersage des FPÖ-Erfolges durch die Meinungsforscher (Audioquelle 84: Mittagjournal, JM‑861124: 3.–4. Beitrag).

Eine aus heutiger Sicht nicht ganz verständliche Gelassenheit gegenüber den Erfolgen der FPÖ und der Grünen wurde an den Tag gelegt. Rückblickend war doch die Nationalratswahl 1986 der Beginn des Niederganges der Großparteien, des Aufstieges der FPÖ und das Aus für das seit der Nationalratswahl 1959 bestehende Drei-Parteien-Parlament. Rückblickend ist vieles klarer, denn 1986 war dieser in der Gegenwart beinahe zwingend erscheinende politische Ablauf sehr viel weniger vorhersehbar. Die Etablierung der Grünen als eine fixe Größe in der österreichischen Innenpolitik lag völlig im Dunkeln. Auch Jörg Haiders Wahlerfolg ließ noch nicht den Aufstieg zu 26,9 Prozent, bzw. 1.244.087 Wählerstimmen im Jahr 1999 erahnen, obwohl die Verdoppelung der FPÖ-Stimmen von 1983 auf 1986 eigentlich mehr Besorgnis von SPÖ und ÖVP hätten erwarten lassen sollen.

Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit SPÖ und ÖVP in Koalitionsverhandlungen traten.

00:10:53
Audioquelle 83: Mittagsjournal 22.11.1986 - Nationalratswahl: Schlußerklärungen der Spitzenkandidaten
00:10:19
Audioquelle 84: Mittagsjournal 24.11.1986 - Nach der Wahl - Wählerstromanalyse und Meinungsforscher im Out

23. Die Neuauflage der Großen Koalition

Ein bewährtes Rezept oder Erstarrung im stillschweigenden Proporz?

Der Dezember 1986 stand ganz im Zeichen der Koalitionsverhandlungen. Nun war das Verhältnis in der Berichterstattung zwischen SPÖ und ÖVP wieder annähernd ausgeglichen. FPÖ und Grüne erweckten im Vergleich mit dem November wieder etwas mehr Interesse, doch war es in absoluten Zahlen sehr bescheiden. Insgesamt hatte die Berichterstattung über die direkten Folgen der Nationalratswahl im Umfang schon stark abgenommen. Das lag auch daran, dass viele Entscheidungen nun hinter verschlossener Tür getroffen wurden, weder SPÖ noch ÖVP führten „gläserne“ Koalitionsverhandlungen.

Koalitionsverhandlungen im Ö1-Mittagsjournal – Dezember 1986

Datum

Beiträge

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

1.

11

3

3

-

-

-

-

-

-

-

2.

12

4

-

2

2

-

-

-

-

-

3.

13

5

-

2

2

-

-

-

-

1-

4.

11

4

1

1

-

1

-

1

-

-

5.

12

4

-

-

2

1

-

1

-

-

6.

9

1

-

-

1

-

-

-

-

-

9.

13

1

-

1

-

-

-

-

-

1

10.

11

3

1

1

-

-

-

-

-

-

11.

12

-

-

-

-

-

-

-

-

-

12.

12

2

-

-

-

2

-

-

-

-

13.

8

1

-

-

-

-

-

1

-

-

15.

11

2

-

1

1

-

-

-

-

-

16.

13

2

1

-

-

-

-

1

-

-

17.

11

2

1

1

-

-

-

-

-

-

18.

12

3

1

1

1

-

-

-

-

-

19.

15

1

1

-

-

-

-

-

-

-

20.

10

1

-

1

-

-

-

-

-

-

22.

11

1

-

-

1

-

-

-

-

-

23.

11

-

-

-

-

-

-

-

-

-

24.

8

-

-

-

-

-

-

-

-

-

27.

8

-

-

-

-

-

-

-

-

-

29.

9

1

-

-

-

-

-

-

-

1

30.

10

2

2

-

-

-

-

-

-

-

31.

6

1

-

-

-

-

-

-

-

1

Summe

259

44

11

11

10

4

-

4

-

4

%

100

17,0

4,2

4,2

3,9

1,5

-

1,5

-

1,5

Doch die Tatsache, dass es kein großes öffentliches Überwürfnis gab, keinen melodramatischen Abbruch der Verhandlungen mit gegenseitiger Schuldzuweisung, wurde als Zeichen dafür gewertet, dass die Verhandlungen zu einem positiven Ergebnis kommen würden. 

Regierungsbildung im Ö1-Mittagsjournal – Jänner 1987

Datum

Beiträge

Wahl

Mehrfach

SPÖ

ÖVP

FPÖ

KPÖ

Grüne

Andere

Allg.

2.

11

-

-

-

-

-

-

-

-

-

3.

9

1

-

1

-

-

-

-

-

-

4.

11

1

1

-

-

-

-

-

-

-

7.

11

2

-

1

1

-

-

-

-

-

8.

13

2

1

-

-

-

-

-

1

-

9.

12

1

1

-

-

-

-

-

-

-

10.

9

2

2

-

-

-

-

-

-

-

12.

17

1

1

-

-

-

-

-

-

-

13.

12

2

2

-

-

-

-

-

-

-

14.

12

2

1

-

-

-

-

1

-

-

15.

12

3

3

-

-

-

-

-

-

-

16.

14

5

4

-

-

1

-

-

-

-

17.

8

3

1

-

1

1

-

-

-

-

19.

13

4

-

4

-

-

-

-

-

1

20.

13

5

-

3

1

-

-

-

-

1

21.

11

4

2

-

1

-

-

-

-

-

22.

12

2

-

2

-

-

-

-

-

-

23.

11

2

1

-

-

1

-

-

-

-

24.

8

1

-

-

-

1

-

-

-

-

26.

12

1

-

1

-

-

-

-

-

-

27.

13

3

1

-

-

1

-

1

-

-

28.

12

2

2

-

-

-

-

-

-

-

29.

10

2

1

-

1

-

-

-

-

-

30.

11

1

1

-

-

-

-

-

-

-

31.

10

-

-

-

-

-

-

-

-

-

Summe

287

52

25

12

5

5

-

2

1

2

%

100

18,1

8,7

4,2

1,7

1,7

-

0,7

0,35

0,7

Im Jänner 1987 bekam Österreich eine neue Bundesregierung. Die Neuauflage der Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP sollte die politische Landschaft der Republik für über ein Jahrzehnt beherrschen. In der Berichterstattung im Ö1-Mittagsjournal ist der Überhang der Mehrfachbeiträge auffällig. Die Erklärung dafür ist relativ simpel – Die Endphase der Koalitionsverhandlungen, sowie das demonstrativ gemeinsam Auftreten der Bundesregierung, ergaben bei 25 Beiträgen in der Spalte „Mehrfachnennung“ 18 Beiträge für die SPÖ und ÖVP, die kommende Große Koalition warf ihren langen Schatten voraus.

Bei den Einzelbeiträgen ist ein deutliches Übergewicht für die SPÖ zu erkennen, doch stand dahinter kein Grund zur Freude für die Sozialisten, im Gegenteil. Altbundeskanzler Kreisky ließ seinem Unmut über die Regierungsbildung freien Lauf. In einem Telefoninterview, für das Ö1-Mittagsjournal vom 19. Jänner 1987, überhäufte er die SPÖ-Führung mit Kritik und Vorwürfen. Der Staatsmann im Ruhestand betrachtete den inneren Zustand der Partei als katastrophal. Die Aufgabe des Außenministeriums durch die SPÖ musste den Weltpolitiker Kreisky bis ins Herz getroffen haben. Sein politisches Lebenswerk, sein politisches Erbe war von den Bürokraten in der Partei verraten und verkauft worden (Audioquelle 85: Mittagsjournal, JM‑870119: 1. Beitrag; Audioquelle 86: Mittagsjournal, JM‑870119: 3.–5. Beitrag; Audioquelle 87: Mittagsjournal, JM‑870120: 5.–6. Beitrag; Audioquelle 88: Mittagsjournal, JM‑870122: 7.–8. Beitrag).

Die Aussöhnung mit der Bewegung und dem Parteivorsitzendem und Bundeskanzler Franz Vranitzky anlässlich der 100-Jahrfeier der Sozialdemokratie in Österreich, im Dezember 1988, blieb kühl. Ein Grund dafür mag wohl die Verbitterung Kreiskys über die Verwicklung vieler seiner politischen Ziehsöhne, mit Ausnahme von Heinz Fischer, in Skandale und Gerichtsverfahren gewesen sein (Pittler 1996: 131).

Bruno Kreisky starb am 29. Juli 1990. Mit ihm wurde am 7. August eine Ära der österreichischen Nachkriegsgeschichte zu Grabe getragen, deren Ende eigentlich schon am 24. April 1983 begonnen hatte.

(Publiziert 2008)

00:00:48
Audioquelle 85: Mittagsjournal 19.01.1987 - Kreisky rechnte mit SPÖ ab
00:16:35
Audioquelle 86: Mittagsjournal 19.01.1987 - Kreiskys Abrechnung mit der SPÖ und die Reaktionen
00:06:54
Audioquelle 87: Mittagsjournal 20.01.1987 - Kreiskys Angriff auf die SPÖ und die Reaktionen
00:12:34
Audioquelle 88: Mittagsjournal 22.01.1987 - SPÖ-Krach mit Kreisky

24. Quellen

Literatur:

· Broschüre des Innenministeriums zur Nationalratswahl 1983. Wien 1984.

· Connell, John. Illusion Sicherheit. Die Grenzen der High-Tech-Rüstung. Berlin 1987.

· Dusek, Peter. Pelinka, Anton. Weinzierl, Erika. Zeitgeschichte im Aufriss. Österreich seit 1918. Wien 1988.

· Fischer, Heinz. Positionen und Perspektiven. Wien 1977.

· Ders. Die Kreisky Jahre 1967 – 1983. Wien 1993.

· Gehler, Michael (Hrsg.). Sickinger, Hubert (Hrsg.). Politische Skandale und Affären in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim. Wien 1995. S. 502 ff.

· Henke, Klaus Dietmar (Hrsg.). Woller, Hans (Hrsg.). Politische Säuberungen in Europa. Die Abrechnung mit Faschischmus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1991.

· Horvath, Elisabeth: Ära oder Episode. Das Phänomen Bruno Kreisky. Wien 1989.

· Isby, David C. War in a distant country. Afghanistan: Invasion and Resistance. London 1989

· Karas, Othmar (Hrsg.). Die Lehre. Österreich: Schicksalslinien einer europäsichen Demokratie. Wien 1988.

· Kreisky, Bruno. Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Wien 1986.

· Pelinka, Anton. Die Kleine Koaliton SPÖ-FPÖ 1983-1986. Wien 1993.

· Pittler, Andreas S. Bruno Kreisky. Reinbek bei Hamburg 1996.

· Rauchensteiner, Manfried. Die Zwei. Die Große Koalition in Österreich 1945-1966. Wien 1987.

· Steininger, Rolf (Hrsg.). Gehler, Michael (Hrsg.). Österreich im 20. Jahrhundert. Vom 2. Weltkrieg bis zur Gegenwart. Band 2. Wien 1997.

· Ulram, Peter A. Hegemonie und Erosion. Politische Kultur und politischer Wandel in Österreich. Wien 1990.

· Ziegler, Meinrad. Kannonier-Finster, Waltraud. Österreichisches Gedächtnis.  Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien 1993.

· Zöllner, Erich. Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 1984.

· Zöllner, Erich. Schüssel, Therese. Das Werden Österreichs. Wien 1995.

 

Zeitschriften:

· Czernin, Hubertus. Waldheim und die SA. In: Profil. Nr. 10. 3. März 1986.

 

Internet:

· http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_wahlen/ – Seite des Bundesministerium für Inneres zu Wahlen und Volksbegehren

 

Ö1-Journalsendungen:

(JF-...... – Morgenjournal, JM-...... – Mittagsjournal, JA-...... – Abendjournal)

· JM-700303_a

· JF-711013

· JF-781107

· JM-791213

· JM-791228

· JM-800303

· JM-801105

· JM-810117

· JM-820119

· JM-821004

· JM-821028

· JM-821029

· JM-821111

· JM-821214

· JM-830124

· JM-830209

· JM-830319

· JM-830324.    

· JM-830325

· JM-830326

· JM-830328

· JM-830329

· JM-830413

· JM-830425

· JM-830510

· JA-830513

· JM-830517

· JM-830517

· JM-830518

· JM-830519

· JM-830520

· JM-830524

· JM-830525

· JM-830526

· JM-830527

· JM-830924

· JM-831029

· JM-831114

· JM-831115

· JM-840507

· JM-840801

· JM-840903

· JM-840905

· JM-841006

· JM-841020

· JM-841022

· JM-850124

· JM-850125

· JM-850416

· JM-851104

· JM-860306

· JM-860327

· JM-860423

· JM-860428

· JM-860429

· JM-860602

· JM-860607

· JM-860609

· JM-860626

· JM-860707

· JM-860904  

· JM-860905

· JM-860909

· JA-860909

· JM-860911

· JM-860912

· JM-860913

· JM-860915

· JM-860916

· JM-861122

· JM-861124

· JM-870119

· JM-870120

· JM-870122

· JM-880317

· JA-880317