Eine Kooperation mit dem Austrian Cultural Forum London
2021/2022 führte die Historikerin Bernadette Edtmaier Videointerviews mit zehn Menschen durch, die im Zuge des “Anschlusses” Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland nach Großbritannien emigrieren mussten.
In dieser Interviewreihe von Bernadette Edtmaier in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Kulturforum in London erzählen zehn in Österreich geborene und als Kinder von den Nationalsozialisten in die Emigration nach England gezwungene Zeitzeug_innen ihre Lebensgeschichte für die Sammlung MenschenLeben. Bei den Interviewten handelt es sich um Verfolgte des NS-Regimes, um Menschen die mit den „Kindertransporten“ ins Vereinigte Königreich gebracht wurden und um Holocaust-Überlebende, die über ihre Flucht und ihre Erfahrungen sowie den weiteren Lebensweg in Großbritannien berichten. Neben ihren individuellen Flucht- und Verfolgungsgeschichten und Verlusten von Angehörigen reflektieren sie im Interview auch über ihre jüdisch-österreichischen Identität, ihre Integration in die britische Gesellschaft und über ihre persönliche Aufarbeitung der traumatischen Kindheits- und Jugenderlebnisse. Einige von ihnen waren in den vergangenen Jahrzehnten als Zeitzeug_innen aktiv.
Mit einer Auswahl von Ausschnitten wollen wir diesen außergewöhnlichen Lebensgeschichten und beeindruckenden Persönlichkeiten Raum geben. Alle Interviews wurden auf Englisch geführt und vier, aufgrund der Coronapandemie, online über Zoom. Darunter auch das Interview mit dem 101-jährigen Eric Sanders, der mit mehr als 38 Stunden Erzählzeit für das bis dato längste Interview der Sammlung MenschenLeben gesorgt hat. Eine besondere Bedeutung erhält diese Reihe durch das hohe Alter der Interviewten, die damit zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen_innen des Holocaust und des nationalsozialischen Terrors gehören.
Als thematisch offen Oral History-Sammlung versucht MenschenLeben ein möglichst breites Spektrum von Lebensgeschichten zu dokumentieren. Dennoch kommen durch die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Partner_innen oder aus dem eigenen Team angeregte Ideen verschiedene Interviewschwerpunkte zu Stande. In dieser laufend wachsenden Onlineausstellung möchten verschiedene thematische Vertiefungen in unsere Sammlung ermöglichen.
Die Geschwister Ruth, Jahrgang 1928, und Harry Heber wuchsen in Innsbruck auf, wo ihre Eltern ein kleines Textilgeschäft besaßen. Ruth Jacobs (geb. Heber) erinnert sich daran, wie sich das bis dahin ruhige Leben der kleinen jüdischen Gemeinde mit dem sogenannten "Anschluss" im März 1938 abrupt änderte. Nachdem ihrem Vater die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, wurde die Familie von der SA nach Wien verbracht. Dort erfuhr ihr Vater von den "Kindertransporten" nach Großbritannien und es gelang ihm, für Ruth und ihren Bruder Plätze zu beschaffen.
Ruth Jacobs beschreibt den Abschied von ihren Eltern, die bangen Stunden an Bord des „Kindertransportes“, getrennt von ihrem Bruder, und von der Freude Holland zu erreichen, wo die Kinder mit Milch und Schokolade empfangen wurden.
Harry Heber, geboren 1931, entkam im Dezember 1938 mit seiner älteren Schwester Ruth mit einem "Kindertransport" nach Großbritannien. Nachdem auch seinen Eltern kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Flucht aus Österreich gelungen war, konnte sich die nunmehr wiedervereinte Familie in London ein neues Leben aufbauen. Harry absolvierte eine Optikerlehre und arbeite später in Bristol und London als selbständiger Optiker. Nach seiner Pensionierung engagierte er sich ehrenamtlich beim World Jewish Relief und trat als Zeitzeuge auf. Im Interview setzt sich Harry Heber auch mit seinen Gefühlen gegenüber Österreich und der österreichischen Vergangenheitspolitik auseinander.
Harry Heber berichtet von einer touristischen Bustour, die er bei einem Wienbesuch in den 60er oder 70er-Jahren unternommen hat, und bei der von einem Fremdenführer die damals noch vorherrschende These von Österreich als erstem Opfer der nationalsozialistischen Aggression vertreten wurde.
George Vulkan, Jahrgang 1929, konnte im August 1938 mit seinen Eltern über Frankreich nach Großbritannien vor dem Nationalsozialismus flüchten. In London war die Familie mit sehr schwierigen Lebensumständen konfrontiert, die sich mit der Eskalation des Zweiten Weltkriegs und den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien noch zusätzlich verschärften.
George Vulkan beschreibt den Stimmungsumschwung im Vereinigten Königreich gegenüber den aus Deutschland und Österreich geflüchteten "Enemy Aliens" und berichtet vom Leben der Flüchtlinge im Swiss Cottage, dem damaligen Zentrum der jüdischen Emigranten in London.
Eva Geiringer Schloss wurde 1929 als Eva Geiringer in Wien geboren. 1939 floh sie mit ihrer Familie über Belgien in die Niederlande, wo sie von 1942 bis 1944 in einem Versteck lebte. 1944 wurde die Familie dennunziert, verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert. Eva Geiringer Schloss erlebte mit ihrer Mutter im Jänner 1945 die Befreiung durch die Sowjetarmee. Ihr Vater und ihr Bruder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Nach Kriegsende kehrte die damals 16-jährige Eva in die Niederlande zurück, bevor sie 1951 nach London übersiedelte. In England gründete sie eine Familie und arbeitete als Antiquarin. Eva Schloss’ Mutter heiratete Anne Franks Vater Otto Frank, womit Otto Frank zu ihrem Stiefvater wurde.
Bereits 1955 besuchte Eva Geiringer Schloss auf Einladung der Niederlande hin zum ersten Mal die Gedenkstätte in Auschwitz - auch um dort jenen sowjetischen Soldaten wiederzubegegnen, die das KZ 1945 befreit hatten. In den Jahrzehnten danach reiste sie noch mehrmals nach Auschwitz - einmal sogar im Zuge einer Einladung Japans.
Ein immer wiederkehrendes Thema der Interviews ist - wie bei Ernest Simon - das Verhältnis der Zeitzeug_innen zu ihrem Herkunftsland Österreich und deren persönliche Sichtweise auf die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Zweiten Republik. Ebenso fragt Bernadette Edtmaier nach der Identifikation der Emigrant_innen zur mit Großbritannien und der jüdischen Gemeinschaft, worauf viele - wie Freddy Kosten - eine ambivalente Antwort geben. Als Kinder vertrieben und verfolgt, bleiben die Interviewten zwischen den Welten.
Ernest Simon, geboren 1930 in Eisenstadt, beschreibt seine sich wandelnde Beziehung zu jenem Land, das er mit acht Jahren mit einem Kindertransport aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlassen musste.
Interviews: Bernadette Edtmaier
Kamera: Chris Lincé
Texte und Auswahl: Michael Maier und Johanna Zechner
Eine Kooperation der Sammlung MenschenLeben/Österreichische Mediathek mit dem Austrian Cultural Forum London