Gertrude Reuther – 99 Jahre Leben

Die Lebensgeschichte von Gertrude Reuther zeigt, wie facettenreich eine scheinbar unaufällige weibliche Biografie des 20. und 21. Jahrhunderts verlaufen kann. Die selbstbewusste und eloquente Art der fast 100-jährigen Erzählerin imponiert dabei nicht nur ihrem Interviewer; als Lehrerin wusste sie nur zu gut, wie man sich Gehör verschafft.

Gertrude Reuther wurde 1922 in Wien geboren und ver­brachte dort die ersten Lebensjahre, ehe sich ihre Eltern – gerade noch rechtzeitig vor der Weltwirtschaftskrise – entschlossen, mit den Ersparnissen ein Haus in Klosterneu­burg zu bauen. Die Ehe ihrer Eltern beschreibt sie als äußerst glücklich und mutmaßt, dass sie ein „Hochzeitstagkind“ war. Ein Umstand, den sie als Segen betrachtet.

Nach der Kriegsmatura 1940 kam sie zunächst in den von vom NS-Regime eingeführten "Reichsarbeitsdienst", den sie als sehr positiv in Erinnerung hat. Im Anschluss studierte Gertrude Reuter Deutsch und Leibeserziehung auf Lehramt in Wien. Das Doktorratsstudium absolvierte sie in den Nachkriegsjahren in Graz und lernte während der Ausbildung zur Lehrerin alle möglichen Sportarten kennen, wobei das Segelfliegen es ihr besonders angetan hatte.

Zurück in Klosterneuburg erhielt sie eine Stelle als Gymnasiallehrerin in Tulln, die sie bis zur Pension innehatte. Das Unterrichten war ihre große Leidenschaft – „Lehrerin ist man, oder man ist es nicht!“.

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"Angst hab ich in meinem Leben nie gelernt."

Gertrude Reuther erinnert sich an ein Erlebnis im Alter von vier Jahren. Ihre Mutter erlaubte ihr bei einem gemeinsamen Spaziergang, alleine in eine Grube zu klettern.

01:33:12 [01:09:27 bis 01:14:21]
"Ich belüg doch meine Schüler nicht. Ich mach doch da kein Affentheater."

Gertrude Reuther möchte während des Interviews keine Pause machen. Außerdem spricht sie im Interview so, wie sie auch sonst redet. Mit ihren Schülern sprach sie nie Hochdeutsch, was einen bestimmten Grund hatte, den sie ihrem Schulinspektor viele Jahre nach dem ersten Aufeinandertreffen, verriet.

Gertrude Reuther durchlebte auch schwierige Zeiten. Der Tod ihres Vaters 1943 bei Stalingrad und die Flucht vor der russischen Besatzung prägten die vierfache Mutter ebenso wie der Tod zweier ihrer Kinder. Trotzalledem spricht sie im Interview darüber, dass sie den Lebensmut nie verloren hat und dankbar ist für das Gute, das sie erlebte.

Ein spezielles Glück in ihrem Leben zog sie ab 1988 wieder zurück nach Graz. Dort lebte ihre einstige Jugendliebe, mit der sie jahrzehntelang keinen Kontakt mehr hatte. Als die beiden sich nach so langer Zeit wieder trafen, war die Liebe zwischen ihnen noch immer da.

Gertrude Reuther starb zwei Monate nach dem Interview und einen Monat vor ihrem 100. Geburtstag, über dessen Planung sie gegen Ende des Interviews sogar noch spricht.

Text und Auswahl: Daniel Pregartner, 2023

Gertrude Reuther, geboren 1922 in Wien
Interviewort: Graz
Interview: 2022
Interviewer: Daniel Pregartner
Interviewdauer: 4 Stunden 5 Min
Link zu allen 3 Interviewteilen

01:33:12 [00:44:17 bis 00:47:14]
"Na, Trude! Drei Wochen sitz ich jetzt schon da und wart auf deinen Anruf!"

Mit 66 Jahren begann für Gertrude Reuther ein neues Leben. Sie traf  den Mann ihres Lebens, ihre einstige Jugendliebe, wieder. Hier erzählt sie, wie sich das erste Telefonat nach Jahrzehnten, gefolgt vom ersten Treffen, nach so langer Zeit abspielte.

01:33:12 [00:02:09 bis 00:04:02]
"Sie werden das brauchen, wenn Sie das Datum in meinem Führerschein sehen."

Gertrude Reuther fuhr noch bis vor wenigen Jahren mit dem Auto. Am Schluss besaß sie einen Sportwagen. Bei routinemäßigen Polizeikontrollen war das Erstaunen immer groß, wenn der Blick in den Führerschein ihr Alter preisgab.

Das gesamte Interview mit Gertrude Reuther in drei Teilen finden Sie hier.

01:33:12 [00:22:01 bis 00:25:00]
"Und auf einmal fangen seine Finger an zu krabbeln"

Gertrude Reuther erzählt, wie sie ein sexueller Annährungsversuch ihres Religionslehrers in ihrer Jugend dazu bewogen hat, der katholischen Kirche den Rücken zu kehren.