Herma Riecke – die diplomierte Weinhauerin nimmt sich kein Blatt vor den Mund.

Mit ihrer direkten Art nimmt die 85-jährige Herma Riecke die Zuhörenden für sich ein, ihre lebendig vorgetragenen Erzählungen lassen Bilder entstehen und sie überrascht uns mit ihren Reflexionen zu gesellschaftlichen Tabus.

Herma Riecke, geb. Humbs, wuchs in einem Heurigen in Neustift am Walde auf. Der Betrieb wurde von ihren Großeltern 1902 gegründet und von ihren Eltern weitergeführt. Herma absolvierte nach dem Krieg die Wein- und Obstbauschule in Klosterneuburg und studierte Landwirtschaft an der Universität für Bodenkultur – damals eine reine Männerdomäne. 1957 schloss sie ihr Studium ab, heiratete ihren Studienkollegen Harald, bekam eine Tochter, und führte gemeinsam mit ihrem Mann den Buschenschank „Altes Werkl“ weiter - bis zum Jahr 2001.

Als "G’studierte" hatten es die diplomierten Landwirtin in der Wiener Bauernschaft nicht immer leicht, ihr Wissen beispielsweise über die Bedeutung des Humus wurde lange Zeit belächelt. Auf der anderen Seite hemmte sie ihr Dialekt, ihre "Löwinger-Bühnen-Sprechweise" – wie sie selbst es nennt – daran, in die Gemeindepolitik zu gehen, was sie durchaus gereizt hätte. Doch war die Winzerin in zahlreichen landwirtschaftlichen Ausschüssen tätig.

01:14:58 [00:13:38 bis 00:15:25]
"Die zwa depatten Ingenieur!"

Das diplomierte Weinhauer-Ehepaar wurde von den 1960er Jahren bis teilweise in die 2010er Jahre aufgrund seiner naturschonenden Anbauweise von andere Weinbauern misstrauisch beäugt.

Herma Riecke entstammt einer sozialistischen Familie. Ihr Vater und auch ihre Mutter wurden im Bürgerkriegsjahr 1934 kurzzeitig verhaftet – ihre erste, prägende Begegnung mit "der Politik". Die Gefahr für die Familie steigerte sich ab 1938, da zwei Onkel jüdisch waren.

01:33:12 [00:11:03 bis 00:12:30]
"Das Leben von neun Leuten war mir anvertraut."

 In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dem Mädchen die Aufgabe übertragen, die Familie vor unliebsamen Besuch zu warnen.

Die "Neigung zum Sozialismus habe sie von ihrem Vater geerbt", sagt Herma Riecke. Dessen Werte – wie Solidarität und Gerechtigkeit – hält sie nach wie vor hoch. Riecke war viele Jahre im Vorstand der Wiener SPÖ-Bauern tätig, doch spart sie nicht an Kritik an der Entwicklung der Partei und ihren Vertreter_innen. Wie sie sich überhaupt kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie spricht offen über Tabuthemen wie Sexualität und ihre eigene Betroffenheit von Inkontinenz und Messie-Syndrom. Freilich ist auch sie ein "Kind ihrer Zeit", lehnt Gender-Sprache ab und bemängelt den geringen Arbeitswillen der heutigen Jungen – obwohl sie selbst an den Folgen der jahrzehntelangen schweren Arbeit laboriert. Sie klagt und moralisiert nicht und wirkt stets authentisch. Ihre Motivation für das Interview war ihr Wunsch, zur Bildung junger Menschen beizutragen. Man hört ihr gern zu, denn sie kann gut erzählen und serviert die Geschichten mit einer gehörigen Portion Humor.

Text und Auswahl: Isabelle Engels, 2023

Herma Riecke, geboren 1929 in Neustift am Walde bei Wien
Interview: 2014/2015
Interviewort: Wien
Interviewerin: Isabelle Engels
Interviewdauer: 11 Stunden
Link zu allen 11 Interviewteilen

01:28:00 [00:07:24]
"Ein ziemliches Paradies!"

Herma Riecke erzählt aus ihrer Kindheit in Neustift am Walde und über den Erfrischungskiosk der Großmutter. Der Hintergrund war allerdings ein tragischer: der Wäscherei der Großmutter waren ab 1938 viele ihrer jüdischen Kund_innen abhanden gekommen, sodass sie einen neuen Zuerwerb brauchte.

01:09:45 [00:08:37 bis 00:14:32]
"Die Frau war dünn wie a Strohröhrl!"

Herma Riecke erzählt von einer Frau, die abgetrieben hat und schlecht behandelt wurde. Das war Anfang der 70er-Jahre und Schwangerschaftsabbruch war noch verboten. Ein halbes Jahrhundert später führt sie diese Erinnerung zur Reflexion über Aspekte der Sexualität.

01:33:12 [00:50:38 bis 00:51:49]
"Aussi mit eich!"

In dem als „sozialistische Hochburg“ verschrienen Heurigen fanden sich immer weniger Sozialisten als Gäste ein. Alle waren bei Frau Riecke willkommen, solange sie keine Nazi-Lieder sangen und sich gut benahmen.

Das gesamte Interview mit Herma Riecke in 11 Teilen finden Sie hier

01:33:12 [00:44:07 bis 00:46:01]
"Ich hasse diese ii!"

Die Ökonomierätin Herma Riecke beschwert sich über das Gendern, zeigt im Sprechen darüber aber auch, dass es auch in ihren Sprachgebrauch übergangen ist - zumindest ansatzweise.

00:14:27 [00:05:30 bis 00:06:41]
"Ein teures Modell"

Anlässlich ihrer Sponsion erstand Herma Riecke (damals noch Humbs) einen Hut in der Hernalser Hauptstraße.

01:06:44 [00:44:02 bis 00:48:43]
"So vü ausländisches Obst!"

Trotz eines arbeitsreichen Lebens waren Herma und Harald Riecke in der Pension auf das „Dumpstern“ weggeworfener Lebensmittel angewiesen.