Sänger_innen – Die Verbreitung von Emotion

Mit der Möglichkeit der Aufzeichnung entstanden nicht nur neue Verdienstmöglichkeiten für Sänger_innen, sondern es wurden auch neue Räume für neues Publikum geöffnet.

„Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg, – sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, und namentlich soweit es sich um Landsleute, um Deutsche handelte, eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten. Die Aus­sprache, der Dialekt, die engere Landsmannschaft der Künstler war zu unterscheiden, ihr Stimm­charakter sagte etwas aus über des Einzelnen seelischen Wuchs, und daran, wie sie geistige Wirkungs­möglich­keiten nutzten oder versäumten, erwies sich die Stufe ihrer Intelligenz. Hans Castorp ärgerte sich, wenn sie es fehlen ließen. Er litt auch und biß sich auf die Lippen vor Scham, wenn Unvollkommenheiten der technischen Wiedergabe mit unterliefen, saß wie auf Kohlen, wenn im Lauf einer oft zitierten Platte ein Gesangston scharf oder gröhlend verlautete, was namentlich bei den heiklen Frauenstimmen so leicht sich ereignete. Doch nahm er das in den Kauf, denn Liebe muß leiden.“

Thomas Mann, Der Zauberberg

So manche Sänger_in ereilte bei der Plattenaufnahme die sogenannte „Trichterfurcht“ – die Furcht der professionellen Musiker_innen und Sänger_innen vor der Aufnahme­situation, die zur Zeit der frühen Tonaufnahmen tatsächlich schwierig war. Man musste Erfahrung bezüglich der passenden Lautstärke sowie des richtigen Abstands zum Aufnahmetrichter haben. Eine Nachbearbeitung der Aufnahmen, wie wir sie heute kennen, war nicht möglich. Irritierend für manche Sänger_innen, deren Ruhm in erster Linie ihren Bühnenauftritten zu verdanken war, war auch die Tatsache, dass sich die Bühneninterpretation, die auch von Mimik, Gestik und Präsenz bestimmt war, in ihrer gesamten Emotionalität nicht auf Platte pressen ließ. Manchen Sänger_innen bereitete auch der Gedanke, dass sie für ein zukünftiges Publikum sangen, das in seiner Gesamtheit viel größer war, als man durch eine Vorstellung in einem Opernhaus je erreichen konnte, Unbehagen.
Trotz dieser Einschränkungen waren Plattenaufnahmen bald für viele (Opern-)Sänger_innen Routine und ermöglichten ein nicht unwesentliches zusätzliches Einkommen. Die Möglichkeiten, Platten aufzunehmen und so zusätzliches Publikum gewinnen zu können, hatte weitreichende Auswirkungen. Zum einen kam eine Publikumsschicht mit den Interpretationen der bekanntesten Sänger_innen der Welt in Berührung, die nicht die Gelegenheit zu regelmäßigen Opernbesuchen in den Metro­polen hatte. Die Plattenaufnahmen wirkten stilbildend, denn man konnte jetzt den Tenor im Provinztheater mit dem weltberühmten Caruso vergleichen und hatte einen gewissen Standard im Ohr. Dies wiederum wirkte sich auch auf die Interpretationen der Künstler_innen aus, die sich mit ihren Kolleg_innen vergleichen konnten: „Künstler geben offen zu, von der Sprechmaschine so manches gelernt zu haben. Schmedes eignete sich die Atemtechnik Carusos einzig durch wiederholtes Anhören bestimmter Carusoplatten an, was er der Direktion der Deutschen Grammophon-Aktiengesellschaft auch brieflich mitteilte.“ (Phonographische Zeitschrift, Nr. 46, 1910, S. 1026)

„Und nun setzte plötzlich der weiche, prachtvolle Tenor Carusos ein … „La Donna e mobile …“ Es ist geradezu zauberhaft. Man braucht vor dem singenden Apparat nur die Augen zu schließen, und man meint, den fröhlichen Herzog von Mantua, wie ihn Caruso den Wienern gezeigt hat, erscheinen zu sehen. Die ganze Schönheit, Fülle und Kraft dieser wunderbaren Stimme umrauscht uns mit ihrem ganzen Glanz“

Die Zeit, 25.12.1906, S. 7.

„[…] und gibt es auch hiefür viele Gutachten von verschiedenen bestrenommierten Künstlern, welche bestätigen, daß sie nur einen ganz geringen, wenn überhaupt einen Unterschied zwischen der Wieder­gabe durch die Grammophonplatte und ihrer eigenen Stimme erkennen.“

Der Sprechmaschinenhändler. Beilage zur Österreichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 30.11.1909, S. 13.

00:02:37
Enrico Caruso

Tosca

00:04:09
Enrico Caruso

La Forza del Destino

00:01:58
Enrico Caruso

I Pagliacci

00:02:19
Enrico Caruso

Rigoletto

„Jetzt freilich bleiben die Caruso-Platten und ihr schwermütig-dunkles Timbre. Es ist ein Geschenk, das uns Natur und Technik gemein­sam bereiteten, daß des Edlen Stimme im Grammo­phon so weich und klar wiederklingt. Man wird sie, ihren metallischen Anstieg und ihr bravou­röses Schluchzando, wird ihre Cadenzen und den Strom ihrer dämmrig-milden Schönheit daher noch hören können.“

Nachruf auf Enrico Caruso, Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 31.7.1921, S. 13.

00:04:05
Aristodemo Giorgini

La Boheme

00:02:06
Leo Slezak

Sechse, sieben, acht!

Für die Aufnahme musste man sich eine eigene, exaktere, Technik zurechtlegen, die wahrscheinlich auch eine Auswirkung auf die weiteren Bühnen­auf­tritte hatte: „Im allgemeinen kann man mit Recht sagen: Die Künstler singen und spielen gewöhnlich in Wirklichkeit gar nie so rein und so gut, als wie vor dem Aufnahmeapparat. Kleine Fehler unter­laufen bald irgendwo, wenn man eine Piece nur einmal hört, wie im Theater oder im Konzertsaale. Auf der Platte aber wird bei öfterem Wiederholen selbst der unscheinbarste Fehler bemerkt und darum muß man sich mit jedem Künstler so lange bemühen, bis er wirklich etwas durch und durch Vollendetes bietet. Und hierin liegt die große erzieherische Rolle, welche die Sprechmaschine im Musikunterricht ein­nimmt.“ (Neues Wiener Journal, 28.11.1909, S. 29)


Es gab Karrieren, die ihren Ruhm zu wesentlichen Teilen ihren Plattenaufnahmen und der dahinter­stehenden Werbung der Industrie verdankten, wie etwa Aristodemo Giorgini. Schon in der Frühzeit der Schellackaufnahmen wird die Rolle der Platten­firmen deutlich, die „Stars“ machen und ihr Produkt vermarkten. Unter dem Aspekt der Vermarktung ist auch jene Erzählung zu sehen, die sich immer wieder in der zeitge­nössischen Presse findet: Dem Publikum – oder auch den Künstler_innen selbst – wird eine Aufnahme vorge­spielt und sie alle können keinen klanglichen Unter­schied zwischen Aufnahme und Live-Darbietung erkennen. Eine Behauptung, die uns heute schwer nachvollziehbar erscheint, die aber auch damals schon unter dem Gesichtspunkt der Werbung gesehen werden muss – bei aller Faszination für die neuen technischen Möglich­keiten, die immer wieder durchklingt.

„Eine der besten Aquisitionen die Pathé gemacht hat, dürfte wohl das Engagement des gefeierten Tenors Aristodemo Giorgini sein. Giorgini ist ein aufgehender Stern, ein Künstler, der berufen ist, Carusos Ruhm mächtig zu überragen.“

Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 30.03.1912, S. 17.

„Giorgini ist unstreitbar ein Star und ein genialer Beherrscher des ‚bel canto‘. Sein Organ ist in allen Lagen und allen Stärkegraden äußerst sympathisch und besitzt eine Steigerungs­fähigkeit, die in bewun­derndes Staunen versetzt. Dabei immer bel canto und niemals ein schreien, die Stimme flexibl, schmieg­sam und immer von glocken­heller Reinheit. Die Intonation ist selbst in den höchsten Lagen absolut mühelos, Kantilene und Koloratur gleicherweise in höchster Vollendung, ln bezug auf die Trichter­arbeit kann man nur sagen, daß hier mit raffiniertester Technik gearbeitet wurde. […] ‚Idealmusik im eigenen Heim.‘“

Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 30.4.1912, S. 35.

00:02:48
Leo Slezak

Flieh, o flieh

„Unter den Solisten stellt sich abermals Leo Slezak ein, der die Trauungsszene aus „Manon“ singt. Der Künstler hat seine Aufgabe hier ganz merkwürdig und wohl der Maschine entsprechend aufgefaßt. Denn wer ihn auf der Bühne gehört hat, würde ihn hier nicht wieder­er­kennen. Der Kraftmeier ist hier in einen zarten Tenor verwandelt“.

Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 30.1.1911, S. 35.

Leo Slezak

Lohengrin

„Wer durch die Wunder der Technik noch nicht völlig abgestumpft und blasiert ist, wird nun doch wenigstens für einen kurzen Augenblick die wunderbare Romantik des Erlebnisses genießen, daß ihm aus der leblosen, unendlich prosaischen Hörmuschel etwa die Grals­erzählung aus dem Lohengrin, gesungen von Slezaks strahlender Stimme, entgegentönt.“

Wiener Montags-Journal, 13.6.1921, S. 4.

„So unwahrscheinlich es auch klingen mag, das Grammo­phon stellt höhere Ansprüche an den Künstler, als eine Aufführung an der Metropolitanoper. Denn jenes Publikum, dem die Platte gilt, ist noch viel zahlreicher als das der größten Oper der Welt und umfaßt in Raum und Zeit unabsehbar weite Kreise.“

Maria Jeritza, Neues Wiener Journal, 27.4.1924, S. 5.

„Auch von Winkelmann weiß man einiges recht Interes­santes zu berichten, was sich bei Aufnahmen zugetragen hat. Er imponierte als Wagnersänger zwar allen seinen Anhängern, jedoch nur an Solo- oder Pianostellen. – Sobald jedoch das Orchester mit einem Fortissimo einsetzte, bemühte er sich nicht, dasselbe zu über­schreien, sondern riss bloß den Mund weit auf und – schwieg! – Wozu sich denn anstrengen, wo man seine Kräfte schonen kann! Auf der Bühne gelang ihm dann auch dieser Trick durch Jahre, und nur wenige, ganz intime Anhänger wussten davon. Vor dem Aufnahme­apparate jedoch versagten diese Mätzchen gänzlich, und zwar zu nie­manden anderes grösserer Verblüffung als der Winkelmanns selbst.
Das Resultat war derart, dass der Sänger bei sich Einkehr hielt und seither nicht nur seinen Vortrag gestalten, sondern auch mit seiner Stimme am richtigen Orte sparen lernte. Von der Schwäche, seine Pianos auf Kosten der anderen und seiner eigenen Mittel hinaus­zuschmettern, hat ihn die Sprechmaschine geheilt, und ihr verdankt er auch heute in seinen Vätertagen seine seltene Konservierung.“

Phonographische Zeitschrift, 17.11.1910, S. 1026.

00:02:28
Titta Ruffo

Il Trovatore

Ihren Nachruhm verdanken auch die erfolgreichsten Bühnen­künstler_innen den Plattenaufnahmen: Mit diesen war und ist es erstmals möglich geworden, Interpretationen unmittelbar zu vergleichen – und das über Generationen hinweg.
Im Bereich der klassischen Musik waren es vor allem Sänger_innen, die für einen großen Teil des Umsatzes sorgten, aber auch Instrumentalmusik wurde aufgenommen, vor allem von Solist_innen, deren Interpretationen bis heute als stilbildend gelten, wie etwa jene des Pianisten Alfred Grünfeld.

00:02:58
Marcella Sembrich

Linda di Chamounix

00:03:01
Franz Steiner

Heimliche Aufforderung

00:02:08
Hermann Winkelmann

Loblied der Venus

00:02:43
Selma Kurz

Un Ballo in Maschera

00:03:06
Hedwig Francillo-Kaufmann

Le Nozze di Figaro

„Hedwig Francillo Kaufmann über­rascht uns mit […] Solo­leistungen von vollendetster Ausführung. […] die ‚Rosen­arie‘ aus ‚Figaros Hochzeit‘ mit ihren sehr zarten, reinen und sicher getroffenen Melodienarabesken […]. Man muß sie gehört haben, um die reife Kunst und die hohe Vollendung der Aufnahme voll begreifen zu können.“

Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 31.12.1910, S. 45.

00:03:23
Alfred Grünfeld

Serenade Napolitaine op. 47 Nr. 2

00:04:03
Alfred Grünfeld

Faust-Fantasie - 1. Teil

„Das Spiel des Künstlers macht den Eindruck einer gewissen beab­sichtigten Lässigkeit. Der alte Fehler aller Klavieraufnahmen, das Mitklirren gewisser Saiten, ist hier vollständig vermieden.“

Der Sprechmaschinen­händler. Beilage zur Öster­reichischen Nähmaschinen- und Fahrrad-Zeitung, 30.4.1911, S. 38.