Die Geschichte Südtirols in den Ö1-Journalen

„Los von Rom? Jeder weiß, dass das unmöglich ist.“
(Luis Durnwalder, 24 Jahre lang Südtiroler Landeshauptmann)

 

Dieses Themenpaket behandelt einige Aspekte der Geschichte Südtirols von 1918/19, dem Abschluss des Vertragsvon St. Germain, bis zur Streit­bei­le­gung 1992 und darüber hinaus.

An­hand ver­schiedener Ton­dokumente, haupt­sächlich Bei­träge aus Journale-Sendungen des öster­reichischen Radio­senders Ö1, werden unter anderem die Themen Minder­heiten­rechte, be­waffneter Wider­stand/Terrorismus und Auto­nomie be­handelt und die Ent­wicklung des Süd­tirol­konflikts chrono­logisch be­leuchet.

Darum geht’s

Anhand der Geschichte Südtirols sollen die Schüler/innen über die Hinter­gründe des Konflikts zwischen Österreich und Italien informiert und für den Umgang mit autochthonen Minderheiten sensibilisiert werden. Die Schüler/innen sollen durch gezielte Frage­stel­lungen und Arbeits­an­weis­ungen im Sinne eines re­flek­tierten G­eschichts­be­wusstseins Frage-, Orientierungs- und Sachkompetenz er­langen. Ein weiteres Ziel ist, dass die Schüler/innen lernen, his­torische Zu­sammen­hänge zu ver­stehen und zu er­kennen. Dazu gehört auch zu be­greifen, dass historische Er­eignisse mit der An­gabe eines Grundes bzw. einer Ursache nicht erklärt werden können.

1. St. Germain

Im Mittagsjournal vom 10. September 1999 wurde über den im Sep­tem­ber 1919 unter­zeichneten Friedens­ver­trag von St. Germain und seinen Folgen für Tirol berichtet.

00:55:59 [00:41:40 bis 00:50:38]
80 Jahre Vertrag von St. Germain

Beitrag im Mittagsjournal vom 10. September 1999
(von Minute 41:40 bis 50:38)

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Vertrag von St. Germain die Auflösung der öster­reichischen Reichs­hälfte Österreich-Ungarns geregelt und es wurden die Bedingungen für die neue Republik fest­ge­halten. Südtirol musste demgemäß an Italien abgetreten werden. Nach der Machtergreifung des Faschisten Benito Mussolini in Italien 1922 kam es in Südtirol zu massiven Re­pressionen gegen­über der deutsch­sprachigen Be­völker­ung bzw. der deutschen Sprache. Der Ein­marsch der national­sozialist­ischen Truppen in Österreich am 12. März 1938 wurde von der Mehr­heit der deutsch­sprachigen Be­völkerung Südtirols in der Hoffnung begrüßt, dass bald auch Süd­tirol ins Deutsche Reich eingegliedert werde. Das Gegenteil war je­doch der Fall. Die italienische Zu­stim­mung für den „Anschluß“ Österreichs ging mit dem endgültigen Verzicht auf Südtirol und der Zustimmung zur Assimilation bzw. Umsiedlung der nicht assimilations­bereiten Süd­tiroler/innen in das Deutsche Reich einher. Am 23. Juni 1939 kam es in Berlin zur Ver­ein­barung über die Kom­plett­um­siedlung der Südtiroler/innen ins Deutsche Reich. Durch die „Option“ teilte sich die deutsch­sprachige Süd­tiroler Be­völker­ung in „Optantinnen und Optanten“ – jenen, die für die Um­sied­lung nach Deutschland stimmten – und den „Da­bleib­erinnen und Dableibern“, – jenem deutsch­sprach­igen Be­völkerungs­teil, der in Süd­tirol bleiben wollte.

00:57:51 [00:38:15 bis 00:40:44]
Diskussion um das Südtiroler Selbstbestimmungsrecht

Mittagsjournal vom 3. September 1991
(Minute 38:18 bis 40:44)

2. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Am letzten Tag des Zweiten Weltkriegs, dem 8. Mai, gründeten einige Mit­glieder des „Andreas-Hofer-Bundes“ die „Süd­tiroler Volks­partei“ (SVP). Auf­grund der Leistungen der Wider­stands­kämpfer/innen im Zweiten Welt­krieg wurde die Partei von der Militär­regierung sofort zu­ge­lassen. Die SVP galt als Garant für eine anti­national­sozialis­tische Aus­richtung. Als wichtigste Auf­gaben wurden genannt: nach 25-jähriger Unter­drückung durch Faschis­mus und National­sozialis­mus den kulturellen, sprach­lichen und wirtschaft­lichen Rechten der Süd­tiroler/innen auf der Basis demo­kratischer Grund­sätze Geltung zu ver­schaffen; zur Ruhe und Ordnung im Land bei­zu­tragen und den An­spruch des Süd­tiroler Volkes auf Aus­übung des Selbst­be­stimmungs­rechtes bei den alliierten Mächten zu ver­treten.

Am 14. September 1945 entschieden die Siegermächte in London, dass Süd­tirol vor­erst bei Italien bleiben würde. Man war ledig­lich bereit, öster­reichische Vor­schläge für kleinere Grenz­be­richtig­ungen zu­gunsten Öster­reichs zu prüfen.

Für die österreichische Regierung gab es unmittelbar nach dem Krieg andere Prioritäten als Süd­tirol. Den­noch wurde in den folgenden Monaten im Zuge des inten­siven diplo­matischen Kon­takts zu den Sieger­mächten auch Süd­tirol immer wieder thematisiert.

Historisch wurde mit der über 600-jährigen Geschichte Tirols als Teil von Öster­reich argu­men­tiert. Man wollte eine Revision der Ent­scheidung des Jahres 1919 er­reichen, als Süd­tirol Italien zu­ge­sprochen worden war. Zur Be­kräftigung der Argu­mentation wurde auch der von 1913–1921 amtierende US-Präsident Woodrow Wilson zitiert, der in den 1920er Jahren be­züglich Süd­tirols „von einer Fehl­ent­scheidung“ ge­sprochen hatte. Wirtschaft­lich wurde so argu­mentiert, dass der Verlust, den Italien erleiden würde, sehr gering sei im Vergleich dazu, was Österreich gewinnen würde. Das erklärte Ziel war die Selbst­be­stimmung Süd­tirols, was nur mit der Rück­kehr zu Öster­reich zu ver­wirklichen sei. Eine Volks­ab­stimmung durch­zu­führen, lehnten die Alliierten ab.

3. Das Gruber-De-Gasperi-Abkommen (Das Pariser Abkommen)

Am 1. Mai 1946 lehnten die Alliierten die Wiedereingliederung Süd­tirols in öster­reichisches Staats­gebiet erneut ab. Die Ent­scheidung ist vor allem vor dem Hinter­grund des Ost-West-Konfliktes zu sehen. Den Alliierten war mehr mit einem ver­lässlichen Bünd­nis­partner Italien ge­dient als mit einem größeren Österreich, dessen Zukunft noch un­ge­wiss war.

Am 5. September 1946 unterzeichneten der österreichische Außen­minister Karl Gruber und der italienische Minister­präsident Alcide De Gasperi jenes Ab­kommen in Paris, welches als das „Gruber-De-Gasperi-Ab­kommen“ in die Ge­schichte ein­ging. Die wesent­lichen Punkte dieses Ab­kommens waren: Den deutsch­sprachigen Ein­wohnerinnen und Ein­wohnern wird volle Gleich­be­rechtigung mit den italienisch­sprachigen Ein­wohnerinnen und Ein­wohnern im Rahmen besonderer Maß­nahmen zum Schutze des Volks­charakters und der kulturellen und wirtschaft­lichen Ent­wicklung der deutsch­sprachigen Be­völkerungs­gruppe zu­ge­sichert. Dazu gehört u. a. der Schul­unter­richt in der Mutter­sprache, die Gleich­stellung der deutschen und italienischen Sprache in den öffent­lichen Ämtern sowie bei den zwei­sprachigen Orts­be­zeichnungen und Proporz in öffentlichen Ämtern. Außer­dem wird die Aus­übung einer autonomen regionalen Gesetz­gebungs- und Voll­zugs­gewalt ge­währt und die italienische Re­gierung ver­pflichtet sich zu Be­ratungen mit der öster­reichischen Regierung. Andere wichtige Punkte waren, die „Option“ zu revidieren, ein Ab­kommen für den freien Personen- und Güter­durch­gangs­verkehr zwischen Nord- und Osttirol aus­zu­arbeiten und be­sondere Ver­ein­barungen zur Er­leichter­ung eines er­weiterten Grenz­verkehrs zwischen Öster­reich und Italien.

00:55:47 [00:26:29 bis 00:31:52]
50 Jahre Gruber-De-Gasperi-Abkommen

Bericht von der Festveranstaltung aus dem Wiener Parlament im Mittagsjournal vom 5. September 1996 (von Minute 26:29 bis 31:52)

1949/1950 häuften sich die Beschwerden darüber, dass die im Pariser Ab­kommen ver­ein­barten Regel­ungen be­züglich der Zwei­sprachig­keit nicht ein­ge­halten werden. Ab Juli 1952 musste der gesamte Amts­ver­kehr in italienischer Sprache ge­führt werden. Die Beamten waren aus­schließ­lich Italiener/innen mit schlechten oder gar keinen Deutsch­kennt­nissen und deutsch­sprachige Süd­tiroler/innen hatten keine Chance auf Beamten­posten. Als eines der größten Pro­bleme sahen die Süd­tiroler/innen die von der italienischen Re­gierung ge­förderte Zu­wanderung von italienisch­sprachigen Migrantinnen und Migranten. In der Wohn­bau­politik wurde die deutsch­sprachige Be­völker­ung eben­falls deutlich diskriminiert.

4. Die Südtirolfrage vor der UNO

Erst mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Österreichs durch die Unter­zeichnung des Staats­vertrags bestand die Mög­lich­keit, die Thematik vor die UNO zu bringen. 1956 wurde Franz Gschnitzer Staats­sekretär im Außenamt. Der gebürtige Tiroler war ein vehementer Vertreter der Inter­essen Süd­tirols. Er ver­schärfte die Gang­art gegen­über Italien und übte auf den Bundes­kanzler Julius Raab be­züg­lich des Themas Süd­tirol Druck aus. Im Juli des­selben Jahres be­schuldigte der Kanzler Italien, wesent­liche Punkte des Pariser Ab­kommens nicht ein­ge­halten zu haben. Nach­dem Ge­spräche er­gebnis­los ver­laufen waren, über­gab man das strittige Thema an die Vereinten Nationen.

Auf Initiative des damaligen sozialdemokratischen Außenministers und späteren Bundes­kanzlers Bruno Kreisky wurde die ver­säumte Um­setzung des Pariser Ver­trags 1960 erst­mals als Thema auf die Tages­ordnung der UN-Voll­ver­sammlung ge­setzt. Mit der UN-Re­so­lu­tion 1497/XV vom 31. Oktober 1960 wurde dabei fest­ge­stellt, dass die Um­setzung des Pariser Ver­trags für Italien bindend sei.

Leopold Figl, Nachfolger Grubers und Vorgänger Kreiskys als Außen­minister, äußerte sich am 4. März 1959 im Parla­ment zu Süd­tirol.

00:00:20
Ausschnitt aus dem Bericht des Außenminsters Leopold Figl

am 4. März 1959 im Parlament über den Stand der Süd­tirol­ver­handlungen.

bzw. vollständig und mit historischem Rückblick:

01:06:53
Bericht des Außenministers Leopold Figl

am 4. März 1959 im Parlament über den Stand der Süd­tirol­­ver­­handlungen mit an­schließen­der National­rats­debatte

00:36:41
Fortsetzung der Nationalratsdebatte …

… über den Bericht über den Stand der Süd­tirol­ver­handlungen. Wien, Parlament, am 4. März 1959

5. Die Attentate

Von 1956 bis 1969 wurden in Südtirol zahlreiche Attentate verübt. Diesen Zeit­raum kann man grob in zwei Phasen ein­teilen: In der ersten Phase von 1956 bis 1961 galt der Grund­satz, keine Menschen­leben zu ge­fährden. In der zweiten Phase gab es Tote, Ver­wundete und enormen Sach­schaden.

1957 fand sich ein kleiner Zirkel zusammen, der auf sich auf Andreas Hofer und seinen Frei­heits­kampf be­rief und aus dem später der BAS („Be­frei­ungs­aus­schuss für Süd­tirol“) her­vor­ging.

In der ersten Phase wurden nur Anschläge mit symbolischem Charakter ver­übt, da keine Menschen­leben ge­fährdet werden sollten. Dies waren Attentate auf Denk­mäler wie das Mussolini-Reiter­stand­bild oder auf das Geburts­haus des italienischen Po­li­ti­kers Ettore Tolomei. Später waren die Ziele An­lagen der öffent­lichen Ver­sorgung sowie Roh­bauten für italienische Siedler/innen.

Ab 1961 radikalisierte sich die Lage. Zunehmend waren nun auch öster­reichische und deutsche Staats­bürger/innen an Atten­taten beteiligt. Die An­schläge wurden in­ten­si­viert. Die neuen Ziele waren nun Verkehrs­ver­bindungen und Hoch­spannungs­leitungen. Den Höhe­punkt bildete die „Feuer­nacht“, in der im Raum Bozen 19 Hoch­spannungs­leitungen ge­sprengt wurden. In dieser Nacht war auch ein Toter zu beklagen.

00:57:46 [00:46:40 bis 00:50:41]
Heute vor 30 Jahren: Feuernacht in Südtirol

Bericht im Mittagsjournal vom 13. Juni 1991 (von Minute 46:40 bis 50:41)

Die italienischsprachige Zivilbevölkerung reagierte mit Sprengungen in Österreich, beispielsweise wurde die Andreas-Hofer-Statue in Innsbruck zerstört.

Bei Anschlägen in Oberösterreich gab es ebenfalls einen Toten. In dieser kriegs­ähnlichen Phase sendete ein Süd­tiroler Geheim­sender „Appelle an öster­reichische Soldaten und Süd­tiroler Frei­heits­kämpfer“, nicht auf­ein­ander zu schießen, sich je­doch vor ita­lieni­schen Truppen in Acht zu nehmen. Auch von Völker­mord war die Rede.

00:59:29 [00:23:52 bis 00:28:03]
Das Denkmal von Andreas Hofer in Meran wurde gesprengt

Bericht im Mittagsjournal vom 26. September 1979 (von Minute 23:53 bis 28:03)

00:01:11
Südtiroler Geheimsender auf Sendung

Im Parlament hingegen warnte der damalige Staats­sekretär im Außen­amt Franz Gschnitzer in der Sitzung vom 9. Februar 1961 vor Es­ka­la­tion.

00:00:26
Kurzer Ausschnitt aus der NR-Sitzung vom 9. Februar 1961

Diskussion um Amnestie für die Südtiroler „Bumser“ (Als „Bumser“ wurden die­jenigen be­zeichnet, die an Attentaten beteiligt waren.)

00:55:52 [00:38:20 bis 00:43:13]
Beitrag im Mittagsjournal vom 23. August 1994

(von Minute 38:20 bis 43:13)

6. Die Neunzehner-Kommission

Am 1. September 1961 setzte Italien die sogenannte Neunzehner-Kom­mis­sion ein. Die Kom­mis­sion be­stand aus elf Ver­tretern Italiens, sieben deutsch­sprachigen Süd­tirolern und einem Ladiner. Diese sollten für die Zukunft des Landes einen Maß­nahmen­katalog er­stellen. Aus der Sicht der Atten­täter/innen waren die An­schläge und ins­besondere die „Feuer­nacht“ da­für ver­ant­wortlich, dass nun ernst­haft über den Status von Süd­tirol ver­handelt wurde. Tat­sächlich exis­tierten die Pläne für die Ein­setzung der Kom­mis­sion aber schon vor der „Feuer­nacht“. Mit der Kom­mis­sion wollte Italien die Süd­tirol­frage zu einer inner­italienischen An­ge­legen­heit machen. Außer­dem forcierte die öster­reich­ische Bundes­regierung eine wieder­holte Be­fassung der UNO-General­ver­sammlung mit der Süd­tirol­frage, welche die Re­so­lu­tion aus dem Jahr 1960 im Jahr 1961 be­stätigte.

Am 10. April 1964 wurde der Bericht der Kommission dem da­maligen ita­lie­nischen Minister­präsidenten Aldo Moro über­geben. Aus unter­schied­lichen Gründen dauerte die Rati­fizierung des Re­form­pakets aber noch einige Jahre. Erst am 23. November 1969 be­schloss die Landes­ver­sammlung der Süd­tiroler Volks­partei die An­nahme des Pakets und des „Operations­kalenders“, der sich auf einen der bis zuletzt strittigen Punkte, das Paket betreffend, bezog.

In einem Interview berichtete der damalige Außen­minister Kurt Waldheim von der Eini­gung über das Süd­tirol­paket und den Operations­kalender.

00:04:03
Außenminister Waldheim zur Südtirolkonferenz in Kopenhagen

Ausschnitt aus dem Abendjournal vom 1. Dezember 1969

Am 15. Dezember 1969 fand im österreichischen Parlament die De­batte über die Eini­gung in der Süd­tirol-Frage statt, wobei von einer „denk­würdigen De­batte“ die Rede war. Während die ÖVP Paket und Operations­kalender als Ver­handlungs­erfolg be­trachtete, sprach Bruno Kreisky, mittler­weile in Opposition, von einem „er­bärm­lichen Doku­ment“ und die FPÖ glaubte, eine Kapitulation Öster­reichs vor Italien er­kennen zu können.

00:08:22
Bericht über die Parlamentsdebatte zur Einigung in der Südtirol-Frage

Ausschnitt aus dem Abendjournal vom 15. Dezember 1969

00:04:07
Interview mit dem damaligen Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago zum Autonomiestatut

Ausschnitt aus dem Mittagsjournal vom 9. Oktober 1970 

7. Südtirol von 1972 bis zur Gegenwart

Mit dem zweiten, verbesserten Autonomiestatut, das am 20. Jänner 1972 in Kraft trat, wurde die „Auto­nome Provinz Bozen-Südtirol“ ge­schaffen. Seit Langem hieß das Land wieder offi­ziell Süd­tirol. Mit der Ver­waltung von Schule und Fremden­ver­kehr er­hielt die Provinz auch wesent­liche Kompe­tenzen. Andere Durch­führungs­be­stim­mungen zum so­genannten Paket sollten in ver­schiedenen Kom­mis­sionen aus­ge­arbeitet werden.

Durch die Übernahme der Verwaltung des Schulsystems konnten alle Schüler/innen wieder Unter­richt in ihrer Mutter­sprache er­halten. Die Schüler/innen sollten aber auch die jeweils andere Sprache er­lernen. Die „Auto­nome Provinz Bozen-Südtirol“ erlebte in den 1970er Jahren einen wirt­schaft­lichen Auf­schwung, was neben der Ge­schlossen­heit der Volks­gruppe be­stimmend für eine fried­liche Konflikt­lösung war.

Trotz dieser Fortschritte gab es immer noch zahlreiche Paket­gegner/innen und immer wieder kam es zu Dis­kus­sionen um das Selbst­be­stim­mungs­recht.

1976 trat das sogenannte „Proporzabkommen“ in Kraft. Damit wurde die Be­setzung von Stellen im öffent­lichen Dienst proportional auf­grund der zahlen­mäßigen Stärke der drei Sprach­gruppen Deutsch, Italienisch und Ladinisch ge­regelt. Auch Woh­nungen und Förder­mittel wurden an­teils­mäßig ver­teilt. Um einen Staats­posten zu be­kommen, musste man nun Italienisch und Deutsch be­herrschen, wobei das ver­langte Sprach­niveau von der Art der Be­schäftigung ab­hing, was vor allem bei Italienerinnen und Italienern für Un­mut sorgte. Die Sprach­kenntnisse wurden von einer Kom­mis­sion über­prüft und durch den Zwei­sprachig­keits­schein („Patentino“) be­scheinigt. Lang­sam setzte sich bei den Italienerinnen und Italienern aber die Er­kenntnis durch, dass ethnischer Proporz und Zwei­sprachig­keit auch für sie Vor­teile boten, z. B. gegen­über der Kon­kur­renz aus Rest­italien, die nicht Deutsch sprach. Es dauerte bis 1996, bis die proporz­mäßige Auf­teilung der Stellen er­reicht wurde.

Zu Beginn der Umsetzung des Proporzabkommens waren beide Sprach­gruppen un­zu­frieden. Ab 1978 wurden zehn Jahre lang wieder Bomben­an­schläge ver­übt, wobei für die ersten Attentate die „Front für die Be­frei­ung Süd­tirols“ und der „Tiroler Schutz­bund“ ver­ant­wortlich waren. Auch jetzt wurde von einigen Grup­pierung­en wieder über das Selbst­be­stimmungs­recht dis­kutiert. Die Ge­mäßigten um Landes­haupt­mann Silvius Magnago konnten je­doch die Ober­hand be­halten. Bei der „Schutz­macht“ Öster­reich standen die guten Beziehungen zu allen Nach­bar­staaten im Mittel­punkt.

01:00:05 [00:18:10 bis 00:22:07]
Bericht zu den Anschlägen zum 171. Todestag von Andreas Hofer

Bombenanschläge in Südtirol: Nach zehn Jahren ist das Süd­tirol­paket noch immer nicht er­füllt. Mittags­journal vom 20. Feb­ruar 1981 (von Minute 18:10 bis 22:07)

Im „Tiroler Gedenkjahr 1984“ (175 Jahre nach 1809) – 1809 hatten unter der Führung Andreas Hofers die Schlachten am Bergisel statt­ge­funden – kam es wieder zu anti­ital­ienischen De­mons­tra­tionen, zu „Los von Rom“- bzw. „Heim zu Öster­reich“-Forder­ungen und Brand­ans­chlägen der Terror­gruppe „Ein Tirol“. Hinzu kamen Auto­nomie­be­strebungen anderer italienischer Provinzen (Sardinien, Aosta). Rom reagierte repressiv, auch in Süd­tirol. 1987 waren aber nur noch 3,4 % der Süd­tiroler/innen für eine Ein­gliederung in den öster­reichischen Staat.

Voraussetzung für die Streitbeilegung zwischen Italien und Öster­reich war, dass Ende der 1980er Jahre auch andere im „Paket“ ver­ein­barte Punkte um­ge­setzt wurden. Öster­reich zeigte deut­lich, dass es an einer Streit­bei­legung inter­essiert war. Im Falle der Fort­setzung des Kon­flikts hätte Italien seine Zu­stim­mung zum Bei­tritt Öster­reichs zur EU ver­weigert. Auch die Süd­tiroler Volks­partei stimmte nach langen internen Streitig­keiten und Ve­rhand­lungen zu. Jetzt drängten alle Seiten auf einen schnellen Paket­ab­schluss. Mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989 nahm auch die strategische Be­deutung Italiens ab.

1992 erfolgte die Streitbeilegung, nachdem bis dahin noch offene Punkte wie Finanz­rege­lungen ge­nehmigt worden waren und der Schutz der deutsch­sprachigen Minder­heit im Sinne des Pariser Vertrags ge­währ­leistet worden war. Der Hin­weis auf den Pariser Ver­trag be­tonte die inter­nationale Ver­ankerung und Ein­klag­bar­keit vor dem Inter­nationalen Gerichts­hof. Am 19. Juni 1992 wurde der Streit vor der UNO formell be­endet. Die Durch­führung der 137 Punkte des Pakets wurde von Italien in einer Urkunde an Öster­reich be­stätigt. Trotz allem blieben noch Punkte offen, wie beispiels­weise die Amnestierung der Attentäter/innen, die Auf­hebung der Ein­reise­verbote, Schaden­er­satz­forderungen u. a. Aufgrund dieser Punkte kam es auch nicht zum er­hofften Ab­schluss eines Nach­bar­schafts­vertrags.

00:03:26
Bericht über die offizielle Streitbeilegung zwischen Österreich und Italien

Ausschnitt aus dem Mittagsjournal vom 1. Juni 1992

Nach dem EU-Beitritt Österreichs und dem Schengener Abkommen spielt die Brenner­grenze so gut wie keine Rolle mehr. In Tirol spricht man von der „Europa­region Tirol“. Ur­sprüng­lich war es deren Ziel, eine sanfte Wieder­vereinigung her­zu­stellen. Aller­dings starb die Generation, die ein ver­eintes Tirol mit­erlebt hatte, in den 1970er und 1980er Jahren. Daher ist für die große Mehr­heit der Süd­tiroler/innen die Frage der Wieder­ver­eini­gung Tirols heute kein Thema mehr. Viel­mehr gibt es mittler­weile ein Kon­kur­renz­ver­hältnis zwischen Inns­bruck und Bozen (Uni­versität, Flug­hafen).

Die Lösung der Südtirolfrage gilt international als Musterbeispiel zur Lösung von Minder­heiten­kon­flikten. Im Laufe der Zeit bildeten sich mehrere Aspekte heraus, die für eine fried­liche Konflikt­lösung un­ab­dingbar zu sein scheinen wie die wirtschaft­liche Inte­gration der Region und die Ge­schlossen­heit der Volks­gruppe. Aller­dings ist Süd­tirol kein Bei­spiel für schnelle Lösungen. Und der Modell­charakter ent­stand auch durch den Zeit­punkt der Streit­bei­legung. Gerade zu einer Zeit, als es in der ehe­maligen Sowjet­union und in Jugos­lawien zu zahl­reichen, teil­weise blutigen Minder­heiten- und Natio­nalitäts­kon­flikten kam, schien Süd­tirol ein Muster­bei­spiel der gewalt­losen Konflikt­be­wältigung zu sein. Im Gegen­satz zu vielen anderen Kon­flikten gab es für Süd­tirol je­doch einen inter­nationalen Ver­trag, den Pariser Vertrag von 1946, als Grund­lage und damit die An­er­kennung der Minder­heit vor der UNO. Ein weiterer Unter­schied zu vielen anderen Kon­flikten war, dass stets die auto­nome Selbst­ver­waltung das Ziel war und nicht die Ab­spaltung oder sogar die Un­ab­hängig­keit.

8. Arbeitsblatt

Arbeitsblatt – Die Geschichte Südtirols in den Ö1-Journalen

9. Literatur

Clementi, Siglinde / Woelk, Jens (Hg.): 1992: Ende eines Streits. Zehn Jahre Streit­bei­legung im Süd­tirol­kon­flikt zwischen Italien und Öster­reich. Baden-Baden: Momos 2003.

Erckert, Monika: Warum kam es zu Terrorismus in Südtirol. Wien 2000.

Erhard, Benedikt: Eine Geschichte Südtirols. Option Heimat Opzioni. Vom Gehen und vom Bleiben. Wien 1989.

Gehler, Michael / Solderer, Gottfried (Hg.): Das 20. Jahr­hundert in Süd­tirol. Auto­nomie und Auf­bruch. Band IV. Bozen 2002.

Gehler, Michael: Das Ende der Südtirolfrage? In: Solderer, Gottfried (Hg.): Das 20. Jahr­hundert in Süd­tirol. Bozen: Ed. Rætia 2003, S. 12–33.

Heiss, Hans: Triumph der Provinz? Süd­tirol als euro­päische Modell­region. In: His­torische Sozial­kunde. 36/2006, S. 20–28.

Lechner, Stefan: Revision der Optionen und Rück­sied­lung nach Süd­tirol. Wien 1988.

Pallaver, Günther: Der Streit ist beendet, der Nach­bar­schafts­ver­trag ver­sandet. In: Böhler, Ingrid (Hg.): Öster­reichischer Zeit­ge­schichte­tag 1993. Inns­bruck/Wien: Studien­verlag 1995, S. 142–149.

Pallaver, Günther: Die Beziehungen zwischen Südtirol und Nord­tirol und die Euro­pa­region Tirol-Südtirol-Trentino. In: Karlhofer, Ferdinand (Hg.): Politik in Tirol 2004. Inns­bruck/Wien: Studien­verlag 2004, S. 115–135.

Peterlini, Hans Karl: Wir Kinder der Südtiroler Autonomie. Ein Land zwi­schen eth­nischer Ver­wirrung und ver­ordnetem Auf­bruch. Wien 2003.

Peterlini, Hans Karl: Südtiroler Bombenjahre. Von Blut und Tränen zum Happy­end. Bozen 2005.

Steininger, Rolf: Die Südtirolfrage 1946–1993. Vom Gruber-De-Gasperi-Abkommen zur Bei­legung eines euro­päischen Minder­heiten­kon­flikts. In: Ge­schichte in Wissen­schaft und Unter­richt, 45/1994, H. 1, S. 3–23.

Steininger, Rolf: Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Über­leben einer Miderheit. Innsbruck/Wien: Studienverlag 1997.

Steininger, Rolf: Südtirol 1918–1999. Innsbruck: Studien­verlag 1999.

Steininger, Rolf: Die Südtirolfrage. In: Archiv für Sozial­ge­schichte, 40/2000, S. 203–230.

(Text und Inhalt: Christian Benesch, 2014)