Lust auf's Leben - Kultur aus allen Richtungen [2017.10.22]

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Katalogzettel

Titel Lust auf's Leben - Kultur aus allen Richtungen [2017.10.22]
Titelzusatz Begegnung am Zaun
Urheber/innen und Mitwirkende Huemer, Michael [Gestaltung]
ORF Radio Oberösterreich [Sendeanstalt]
Datum 2017.10.22 [Sendedatum]
Schlagworte Gesellschaft ; Feature ; Asyl ; Radiosendung-Mitschnitt
Typ audio
Format DFMP2 [Dateiformat: MP2]
Sprache Deutsch
Signatur E53-02445

Information

Inhalt

[Sendungsinformation]
Am Grenzzaun von Melilla stoßen Europa und Afrika zusammen. Auf der einen Seite: Paco, ein spanischer Wachmann. Auf der anderen: Mohamed aus Kamerun. Über ein fiktives Gespräch zwischen zwei Personen, die sich einander zwar nicht behindern wollen - aber müssen.
Das spanische Fernsehen berichtet am 6. Februar 2014: „Mindestens 11 Tote und viele Verletzte. Mehr als 1600 afrikanische Flüchtlinge hatten ohne Erfolg versucht am Strand von Tarajal von Marokko aus nach Ceuta zu gelangen. Sie wurden von Sicherheitskräften auf beiden Seiten vom Grenzübertritt abgehalten. Es ist der erste große Versuch im Jahr 2014.“
Obwohl der genaue Ablauf des Geschehens unklar ist, steht fest, dass sich in der Morgendämmerung des 6. Februar eine Gruppe von etwa 400 Flüchtlingen dem Grenzzaun näherte, woraufhin die marokkanische Polizei begann, die Flüchtlinge aufzuhalten und den Grenzübergang von Tarajal schloss. Auf der Flucht teilte sich die Gruppe, wobei ein Teil die Absicht hatte, auf dem Landweg über die Grenze zu kommen und der andere Teil versuchte, den Grenzzaun zu umschwimmen, der dort ins Meer reicht, um in die spanische Exklave Ceuta zu gelangen.
Filme brachten Tragödien ans Licht
Die spanischen Grenzbeamten, die Guardia Civil setzte gegen die afrikanischen Flüchtlinge Schlagstöcke, Tränengas ein und feuerte Gummigeschosse in die Luft. Anfänglich wurde das geleugnet, zu einem späteren Zeitpunkt als notwendige Abschreckungsmaßnahme verteidigt. Amateurfilmaufnahmen zeigten klar, was an jenem Morgen geschah.
Insgesamt 250 Flüchtlinge hatten versucht, die Grenze zu stürmen, viele von ihnen schwimmend. Einigen gelang trotz Gummigeschossen und des Einsatzes von Tränengas der Weg an den spanischen Strand gleich hinter dem Grenzzaun. Sie wurden sofort wieder abgeschoben. Zeugenaussagen von Überlebenden widersprechen dieser Version. Demnach sollen die Flüchtlinge bereits im Wasser gewesen sein, als die Guardia Civil auf sie schoss, was zu Panikreaktionen führte.
Vor allem auch deswegen, weil sich die Flüchtlinge nur dank selbstgebauter Auftriebskörper über Wasser hielten und viele überhaupt nicht schwimmen konnten. Anderen Berichten zufolge dachten die Migranten als sie die Männer am Strand sahen, dass das das Rote Kreuz oder die Polizei sei, die ihnen helfen wollten. Stattdessen begannen Grenzpolizisten, auf die in Panik Geratenen zu schießen.
15 Menschen an einem Tag ertrunken
Der Einsatz von Gummimunition durch Sicherheitskräfte führte in Spanien zu einer heftigen Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen. In der Folge wurde er verboten. Strafrechtliche oder gar politische Konsequenzen hatte die tödliche Grenzschutz-Aktion bislang nicht. Die Regierung in Madrid gab inzwischen zu, dass Gummischrotpakete eingesetzt wurden, um die Flüchtlinge abzuwehren. Ihren Angaben nach wurde aber nicht direkt auf die Flüchtlinge geschossen sondern lediglich Schüsse in die Luft abgegeben. An diesem Tag sind 15 Menschen ertrunken. Die Ermittlungsrichterin beschloss im Oktober 2015, kein Strafverfahren zu eröffnen, da die Beweislage angesichts widersprüchlicher Aussagen der Überlebenden nicht ausreiche. Man könne daher auch kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der beteiligten Beamtinnen und Beamten erkennen.
Hoffen auf Melilla
Er ist der Berg der Hoffnung – der Monte Gurugú, so nennen ihn ihre Bewohner. Es ist ein erloschener Vulkan an die 800 Meter hoch, der einen herrlichen Anblick bietet für tausende afrikanische Migranten auf das Tor zu einem vermeintlich besseren Leben. Melilla heißt die verheißene Stadt, die quasi nur einen Steinwurf entfernt ist.
Der Monte Gurugú ist ein Flüchtlingslager, ein Camp, ein Platz für Menschen, die oft Tausende Kilometer zu Fuß durch die Wüste gegangen sind, die hier warten, um das letzte Hindernis zu überwinden. Armut, Arbeitslosigkeit, Abenteuerlust, Hunger, mörderische Regime, Bürgerkrieg, Korruption haben sie aus einer Heimat vertrieben, die eine immer rascher wachsende und immer jüngere Bevölkerung weder ernähren noch halten kann. Sie kommen aus Somalia, Eritrea, Äthiopien, aus Mali, dem Niger, Ghana, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, aus dem Südsudan, aus der demokratischen Republik Kongo. Es riecht nach verdorbenen Lebensmitteln, Fäkalien und Angstschweiß. Unter dem beißenden Geruch, der vom Müll ausgeht, mischt sich der Rauch der offenen Feuerstellen. Neben zu kleinen Häufchen gestapelte Orangen liegen ausgeweidete Körper von Affen und ausgeblutete Ziegenköpfe, die von Staub und Fliegen bedeckt sind. An den Bäumen der Kieferwälder hängen Decken und Kleidung, der harte und staubige Boden ist bedeckt mit Steinen und selbstgebauten Zelten. Regelmäßig stürmt die örtliche Polizei das Camp und verbrennt Zelte und Nahrung, doch die Migranten sind schnell wieder da. Bei Tag sieht man von dieser Stelle auf marokkanischer Seite das blauheitere Meer, den blitzenden spanischen Stacheldrahtzaun und die historische Festung von Melilla.
Die Hafenstadt Melilla ist neben Ceuta und den Kanarischen Inseln alles, was Spanien von seiner Kolonialherrschaft in Afrika geblieben ist. Seit mehr als 500 Jahren klammert sich das Königreich an die 86.000-Einwohner-Stadt am nördlichen Rand des afrikanischen Kontinents. Sie ist ein historisches Kuriosum, obwohl auf afrikanischem Boden gelegen gehört die Mittelmeerstadt mit knapp vierzehn Quadratkilometern zu Spanien. So wurde diese Exklave zum Vorposten Europas, der seine Grenzen dichtmacht, sich wie in einer Wagenburg geradezu verschanzt hat, um das Abendland aus Wohlstand und Sicherheit nicht zu gefährden. Willkommen an Europas Südgrenze, willkommen in Afrika, willkommen am Grenzwall zwischen sogenannter dritter und erster Welt.
Teure und gefährliche Routen
Flüchtlinge haben drei Möglichkeiten, Melilla zu erreichen. Der härteste aller Wege führt vom Berg Gurugú über den Hochsicherheitszaun. Er kostet kein Geld, aber die Erfolgsquote ist gering. Es ist die Route der Ärmsten der Armen. Ein zweiter Weg führt mit einem gefälschten Pass oder versteckt in einem Auto über den offiziellen Grenzübergang. Schlepper lassen sich dafür etwa 2000 Euro zahlen. Und schließlich ist da noch die Route mit dem Boot nach Melilla oder direkt über die Meerenge von Gibraltar. Zwischen 1500 und 2000 Euro kostet diese Fahrt. Die sich das leisten können, haben sich in die ruhigeren Afra-Berge zurückgezogen. Das ist nicht ganz so nah am Zaun, nicht ganz so nahe an den Polizeikontrollen. Gleichzeitig sind die Preise für Überfahrten durch das enorme Angebot an Schleppern drastisch gesunken. 2013 wurden nur mehr 900 bis 1400 Euro verlangt, im Sommer 2016 lag der Preis für einen Platz bei 230 Euro. Heuer könnte es noch billiger werden.
Der Blick vom Monte Gurugú macht die Flüchtlinge verrückt. Hinter ihnen liegt die Hölle, vor ihnen Europa, das vermeintliche Paradies. Es sind eigentlich nur mehr wenige Kilometer nach Europa. Aber es ist ein unglaublich langer Weg bis dahin und könnte einfach sein, gäbe es diesen Zaun in Melilla nicht. Er ist längst viel mehr als eine Grenze. Der Zaun ist Hindernis und Bestrafung zugleich. „La valla“ wird er auf spanisch genannt und la valla ist Europas deutlichstes Signal an die Außenwelt, dass es für sich bleiben will. Es existiert ein störendes Foto voller Schizophrenie, das um die Welt ging. Während Bewohner von Melilla in Seelenruhe auf dem städtischen Golfplatz „Ciudad de Melilla“ putten, hängt im Hintergrund eine Gruppe dunkelhäutiger Flüchtlinge auf dem Grenzzaun. Afrikanische Zaungäste, Zaungäste im wahrsten Sinn des Wortes, schauen wohlhabenden Europäern zu, wie sie die warme nordafrikanische Herbstsonne bei Ausübung ihres Hobbys genießen.
Drahtgitter und Tränengas
Mit dem Bau beider Grenzanlagen um die Städte Ceuta und Melilla wurde in den Jahren 1995 und 1996 begonnen. Das Bild wird von einem dreifachen Zaun bestimmt. Auf einen ersten, sechs Meter hohen Maschendrahtzaun, der leicht geneigt ist, um ein Hochklettern zu erschweren, folgt ein drei Meter hohes und mehrere Meter breites Hindernis aus Drahtseilen. Beide sind am oberen Rand mit einer beweglichen Anti-Sprung-Vorrichtung gekrönt. Die Guardia Civil erlaubt ihren Kollegen aus Marokko, diesen Bereich, dieses Niemandsland zu betreten, um Migranten, die diesen ersten Zaun überwunden haben, festzunehmen und sie nach Marokko zurückzubringen. Ein dritter, wiederum sechs Meter hoher Zaun verfügt über ein Antikletter-System aus dreizehn mal dreizehn Millimeter großen Maschen, die ein Festhalten unmöglich machen sollen. Die Drahtgitter sind mit einem Alarm gekoppelt, aus integrierten Düsen kann Tränengas gesprüht werden. Vervollständigt wird die auf spanischem Staatsgebiet errichtete Anlage durch Überwachungskameras, Scheinwerfer und einen Patrouillenweg.
Über den Zäunen thronen Wachtürme, in der Nacht ist das Grenzgebiet hell erleuchet. Mit ihren Kameras kann die Guardia Civil bis zu sieben Kilometer in das marokkanische Gebiet hineinschauen, Bewegungsmelder schlagen Alarm, eine Direktleitung verbindet die Meldezentrale mit der marokkanischen Polizei. In regelmäßigen Abständen sind Türen installiert. Sie dienen der direkten Abschiebung von Migranten, die es geschafft haben, alle Hindernisse - den marokkanischen und spanischen Grenzschutzkräften zum Trotz - zu überwinden. Die spanische Regierung beruft sich auf das Konzept der „operationalen Grenze“, der „frontera operacional“, wenn in ihren Augen die illegalen Einwanderer nicht nur die Zäune sondern auch eine etwaige Polizeikette dahinter überquert haben. Damit wurde die Grenzanlage offiziell zum rechtlosen Niemandsland erklärt. Erst nach Überquerung des Niemandslandes würde sowohl spanisches Recht als auch die Europäische Menschenrechtskonvention anzuwenden sein.
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